Schöne neue Welt

(veröffentlicht in der humanistischen Zeitschrift Diesseits)

Ich bin ein Beta-Plus. Und Du? Alpha? Gratuliere! Beta? Auch nicht schlecht. Gamma? Delta? Ebsilon? Oje!
Es ginge noch lange nicht um das Züchten von Menschen? Es wird doch nur ein wenig manipuliert? Es geht in Wahrheit um folgendes: Um den Umgang unserer Gesellschaft mit Krankheit, Behinderung (und Alter). Die momentane Diskussion dreht sich primär um die Präimplantationsdiagnostik, die künstliche Embryonenherstellung bzw. den Embryonenverbrauch.
Die Parteien sind zerstritten. Kanzler und Bundespräsident markieren den Rubikon. Für den einen ist die Gentechnik die „Schlüsseltechnologie des Jahrhunderts“, für den anderen ein ethisches Dilemma. Tatsächlich ist die Bioindustrie inzwischen der stärkste Motor des Neokapitalismus. Hat die Ethik da überhaupt noch eine Chance?
Viele der Argumente, die man zur Zeit hört, sind – für sich genommen – überzeugend. Wer kann nicht die Familie verstehen, die nach mehreren nicht lebensfähigen Kindern vor einer neuerlichen Einpflanzung und Schwangerschaft wissen möchte, ob auch diese Embryonen geschädigt sind. Wer kann nicht die Kranken, die Forscher und die Mediziner verstehen, die auf Möglichkeiten der Heilung hoffen. Aber dafür anderes Leben zerstören? Letztendlich entscheidet das Gewissen. Doch ist das wirklich frei? Ist das nicht bestochen? Mit Geld? Mit Arbeitsplätzen? Mit Ruhm?
In Amerika kann man sich schon jetzt für eine halbe Million ein Klonbaby bestellen. Für die Gewissensfrage, sagen die selbsternannten Inhaber der unbegrenzten Möglichkeiten, seien die Europäer zuständig. Doch wer will schon jemanden Gott spielen lassen, ohne mitzuspielen? Die israelischen Forscher sind führend in der Stammzellenforschung, denn in ihrer Religion gilt der Embryo nicht als schützenswertes Lebewesen. Die Briten, Holländer, Belgier z.B.. führen die PID bereits durch. Das alles zwingt uns zu handeln, uns wenigstens zu entscheiden.
Es gibt sicher Gründe, also Krankheiten, die für eine vorherige Untersuchung sprechen. Aber welche? Und was macht man mit dem Wissen darum? Erkannt werden kann zum Beispiel die Trisomie 21 (Down-Syndrom), diese Kinder können bereits abgetrieben werden (schon das war m.E. eine Fehlentscheidung), solche Kinder brauchte man sich dank PID gar nicht erst einpflanzen lassen, was unbestritten besser wäre, als sie im 6. oder 7. Monat abzutreiben. Aber warum überhaupt abtreiben? Diese Kinder sind zumeist sehr lebensfroh! Das Problem sind nicht wirklich die solcherart behinderten Kinder, das Problem sind die gesellschaftlichen und sozialen Strukturen, die keinen Platz für sie lassen. (Weil sie nicht funktionieren, und ihre Eltern auch nicht mehr.) Deshalb leiden diese Kinder. Deshalb leiden ihre Eltern, weil sie allein gelassen, komisch angeguckt, als „mangelhaft“ bewertet werden, weil sie „mangelhafte“ Kinder haben. An diese Stelle gehören nach wie vor Gelder und Engagement, um Eltern und Kindern das Leben zu erleichtern, sie vor allem zu integrieren. Wird stattdessen investiert in die Möglichkeit, dieses Leben überhaupt nicht erst zuzulassen, rücken wir mit jeder einzelnen Abtreibung bzw. Selektion per PID weg von einem Leben mit Krankheit und Behinderung. Doch nur theoretisch! Das Verständnis dafür sinkt. Denn wer jetzt, nachdem „man da doch was machen kann“, noch ein behindertes Kind zur Welt bringt, der soll sehen, wie er damit zurechtkommt. Ein Leben ohne Krankheit, Behinderung und Altern wird bald möglich- so wird uns suggeriert. Dies jedoch wird es niemals geben. Nur der Druck, möglichst gesund und ewig jung zu sein, wächst. Die Forschung steckt überdies noch immer in den Kinderschuhen, wir können durch Gentests vieles erfahren, aber kaum etwas therapieren. Mit dem Wissen um eine eventuell irgendwann einmal ausbrechende Krankheit werden Eltern allein gelassen. Wie DIE WOCHE berichtete, trieben Frauen in den USA Kinder ab mit der genetischen Veranlagung, 70 oder 80 Jahre später Alzheimer zu bekommen- eventuell! Die wahrsagenden Ärzte hatten wohl vergessen, die Zeitspanne bis dahin zu beleuchten, den Beruf, die Familie, die Liebe, das Leben… Und sie können sich in kürzeren Distanzen irren: Ich habe ein Kind herumkrabbeln sehen, das laut vorgeburtlicher Diagnose nicht lebensfähig war. Dessen Mutter hatte sich gottseidank nicht einschüchtern lassen und den Kleinen geboren. Mit Mut, Liebe und Vertrauen in die elterlichen Fähigkeiten geht vieles. Und das sollten wir nicht vergessen.
Ich habe ein gesundes, intelligentes Kind. Ich denke, ich hätte es auch gewollt, wenn es behindert zur Welt gekommen wäre. Nur hätte ich voller Sorge sein müssen um sein Glück in dieser Gesellschaft.
Würde mein Kind erkranken, wäre ich natürlich überglücklich, wenn ihm geholfen werden könnte. Aber um welchen Preis? Ein paar dutzend tote Embryos? Extra dafür gezüchtete? Mein Leben würde ich für das meines Kindes geben, nicht das von anderen. Was glauben wir eigentlich, uns da anmaßen zu können? Warum werden zu der Frage, wann Leben beginnt, nicht die Frauen gefragt, die seit Tausenden von Jahren im Einklang mit der Natur gebären?
Wir können uns, wie gesagt, internationalen Normen und vor allem Werten nicht völlig verschließen, aber wir können unsere Grenzen ziehen und die so eng wie möglich. In der Forschung ist es möglich, fünf Schritte auf einmal nach vorn zu gehen, doch unmöglich, einen einzigen zurück. Die Grenze wird sich sowieso durch Druck von innen (durch die Forschung) und von außen (durch internationalen Fortschritt) allmählich ausweiten.
Biotechnik gibt sich den Anschein, doch nur das Beste zu wollen, dies aber leider nur für „die Besten“. Für die schönsten und gesündesten genetischen Merkmale nach darwinistischem Prinzip. Der Darwinismus der Natur mag manchmal grausam erscheinen, ist aber immerhin natürlich, in einen geschlossenen Kontext verankert. Der gesellschaftliche Darwinismus ist willkürlich und egoistisch. Die sozialen Strukturen werden aufgelöst. Kinder sind keine Gäste des Lebens mehr, keine „Geschenke des Himmels“ oder der Natur. Sie sind Produkte von unter Druck konstruierenden Designern des Lebens.
Vergessen wir beim Umgang mit Genmanipulationen nicht, daß wir dabei Kräfte freisetzen können, die wir nicht kontrollieren können. Die Beispiele aus der Literatur, wie Shelleys Frankenstein oder Bulgakows „Hundeherz“ oder eben Huxleys schöne neue Welt zeigten schon vor langem, welche Konsequenzen drohen. Das müssen keine Monster in diesem Sinne sein, es können die wunderschönen (aber vielleicht aus der Mode gekommenen) menschenähnlichen Gestalten sein, die nicht wissen, wohin und zu wem sie gehören. Die nicht mit Schmerz, Verlust und Krankheit umgehen können, weil diese Tabus sind. Die nicht wissen, aus wieviel Teilen Zufall und wieviel Teilen Manipulation sie bestehen. Die sich fragen, warum sie gerade diese Manipulationen haben und nicht die anderen. Und die alles, was ihre Eltern diesbezüglich getan oder gelassen haben, ihnen vorwerfen werden. Denn es wird nie richtig sein. Und nie genug. Und der Mensch kein Mensch mehr…

Wo liegt Durasien?

Veröffentlicht in Lit.-Info des Ferber Verlages, Köln 2/2003

Waren Sie schon einmal in Durasien? Wo das sein mag, fragen Sie? Zwischen zwei Buchdeckeln, zwischen allen Büchern der Marguerite Duras. Aber schon in jedem einzelnen finden Sie das vollständige Durasien, das Land der Duras, das Land ihrer Worte, ihrer Sätze. Ein Land, das einlädt. Es gibt immer Wasser dort, einen Fluß mindestens, ein Meer wahrscheinlich, ein mitreißendes, verschlingendes Gewässer. Manchmal gibt es Dschungel und Fliegen und Krankheiten, manchmal Tod. Immer gibt es Leidenschaft und Liebe und Verzweiflung. Vor allem gibt es das Innen, Gefühle, Wahrheiten, eingebettet in das Außen, egal ob Indochina oder Frankreich. Zwischen diesen Ländern wurde die Seele der in Indochina aufgewachsenen Französin Marguerite Duras hin und hergerissen. Ebenso zwischen der Liebe und dem Haß ihrer Mutter, zwischen der Liebe und der Lust, dem Exzess und der Leere, zwischen dem Leben und dem Schreiben.
Einem neuartigen poetischen Stil hatte sich Marguerite verschrieben, einem Stil, den sie nie mehr ablegen sollte, den manch einer nicht durchschauen, nicht verstehen konnte. Sie lebte für das Schreiben. »Wenn ich schreibe, sterbe ich nicht«, sagte sie, betrieb das Schreiben ebenso exzessiv wie alles andere, wie das Trinken, wie die Liebe. Bis zu ihrem Tod am 3. März 1996 im Alter von 82 Jahren liebte sie, schrieb sie.
Den »Liebhaber« ihrer Jugend, den kennen Sie sicher. Dann gäbe es zum Beispiel noch die Liebe der Geschwister im »Sommerregen« zu entdecken
»Die Liebe, sagt Ernesto, bereute er.
Die Liebe, wiederholt Ernesto, bereute er über sein Leben, über seine Kräfte hinaus. Die Liebe zu ihr.«
»Aurelia Steiner«, die ewig junge Schreiberin,
den »Schmerz« der Frau, die ihren Mann aus dem Krieg zurückerwartet,
»Es gibt keinen besonderen Grund, warum er nicht zurückkommen sollte. Es gibt keinen Grund, warum er zurückkommen sollte.
»Die Krankheit Tod«, die Verzweiflung der »Emily L.«, die Unmöglichkeit der Liebe in »Hiroshima mon amour«, »Die Liebe«, immer wieder die Liebe …
»Ich sehe Sie an. Ich sage zu ihnen:
-Liebe wie Verzweiflung leben.
Sie lächeln, und ich lächele Ihnen gleichfalls zu.
-Von überall fliehen wie Verbrecher.« Aus »Emily L.«
Einige der Texte mögen sich dem Verstand entziehen, doch sie wirken, entfalten ihr Eigenleben tief in uns. M.D. sprach immer die Seele an, diesen Abgrund, in den sie ihre Wörter stürzen ließ. Öffnen muß man sich, fallenlassen, dann, nur dann gelangt man nach Durasien, und man kommt vielleicht melancholisch, auf alle Fälle reich und bereichert zurück. Denn für Marguerite Duras war »Das Schreiben … stärker als alles, … stärker als alle Gewalt.« Und deshalb sind es auch ihre Bücher, ist das Land ihrer Worte stärker als alles.

Worte als Waffen

(TAZ vom 26. September 01
Auszug, Gesamttext in »Prenzlberger Ansichten« vom Oktober 01)

Der Strudel, in den sich unsere Politiker hineingeredet haben, ist tödlich. Und warum sind plötzlich soviele Begriffe unklar? Als unmenschlicher Terrorismus wurden die Anschläge bezeichnet, gibt es also auch menschlichen? Zählen dazu vielleicht die Anschläge, die in den 80ern von den USA auf Nicaragua ausgeübt worden sind? Bush bezeichnet seine Nation als das »Gute«. Das schon gegen das »Böse« siegen werde.
Von einer Verteidigung Amerikas kann keine Rede sein, da eine einzige Anschlagsreihe erfolgte, keine Kriegserklärung vorliegt, keine Drohungen, Belagerungen, dauerhaften Angriffe. Vergeltung ist selbstverständlich verboten. Warum darf sogar unter diesem Namen eine Militäraktion ins Leben gerufen werden, ohne daß jemand auf die unbesonnenen Finger klopft? Die asymetrische Kriegsführung ist keineswegs zwingend geboten, denn es gibt keinen Staat, der den Krieg erklärt hat und führt wohl tatsächlich zu einer Spirale der Gewalt. Solidarität mit Waffengewalt, ist das zivilisiert?
Ich sehe ein zorniges großes Kind, das mit dem Fuß aufstampft und nach Rache schreit, nach Blutrache, und so natürlich nicht nachdenken kann. Denn selbstverständlich ist das Gericht, nicht das Militär zuständig. Das sagt neben dem gesunden Menschenverstand auch die Völkerrechtsverordnung. Statt dessen soll ein Rundumschlag genug vernichten, damit das große Kind wieder der unangefochtene Chef der Bande sein kann, der wichtigste Partner der Natoländer. Aber wen wird es treffen? Unschuldige, wie schon in Amerika. Ein militärischer Angriff auf Afghanistan und andere Länder wäre der Auslöser einer humantitären Katastrophe. Wem nützt das alles außer der Waffenindustrie?
Obwohl kein Staat hinter dem Anschlag steht, wird einer angegriffen. Mit Billigung und Unterstützung fast der ganzen Welt, die froh ist, einen Sündenbock zu haben. Die Logik der Hoffnung, das alles nicht so schlimm werden würde, stünde sie hinter all den Versprechen zur uneingeschränkten Solidarität, wäre ziemlich naiv. Jetzt, spätestens nach der Bundestagsabstimmung, die militärische Unterstützung verspricht, könne man nicht mehr zurück. Tatsächlich konnte man schon vom ersten Versprechen an nicht mehr zurück. Worte sind Waffen, aber noch haben sie in diesem Falle nicht getötet …