Das Mädchen aus dem Pfennigsee

(Auszug)

I
„Wenn du einen Pfennig in den See wirfst, geht dein Wunsch in Erfüllung.“
Das hatte Lillis Uroma oft gesagt. Früher, als Uroma noch lebte, und als in Lillis Leben noch alles in Ordnung war.
Nun war irgendwie nichts mehr in Ordnung. Lillis Familie war aus der großen Stadt, in der Lilli aufgewachsen war, in dieses Kaff hier gezogen. Von ihrer modernen Wohnung in das alte muffige Haus von Uroma.
All ihre Freunde hatte Lilli verloren, und in der neuen Schule behandelten sie alle als arrogante Großstädterin.
Deshalb lief Lilli heute nach der Schule in den Wald. Die kleine Stadt lag in einem Tal, umgeben von bewaldeten Hügeln. Wenn man wollte, war man von überall in der Stadt in wenigen Minuten mitten in der Natur.
Lillis Hand spielte mit einem kupferfarbenen Geldstück. Ob es wohl auch mit einem Cent klappt? fragte sich das Mädchen, als es die ersten Eichen passierte. Lilli bemerkte kaum den Geruch des Waldes, den erdigen, sonnengewärmten Geruch. Ihre Schritte klangen nun, als sie auf dem weichen, sandigen Waldboden oder auf dem moosigen Untergrund ging, viel leiser. Durch die alten Eichen mit den freundlichen Gesichtern fielen Sonnenstrahlen, in denen Eintagsfliegen tanzten.
Da ertönte ein grässlicher Schrei direkt über ihrem Kopf. Lillis Herz setzte einen Schlag aus, und dann klopfte es laut. Der Schrei wiederholte sich, und dann sah sie einen großen Vogel mit weißen Flügelspitzen davonfliegen.
„Puh, bloß so ein… äh, wie hieß das Viech noch, ein… ein Eichelmäher, äh, Eichelhäher“ überlegte Lilli, „ja, der Wächter des Waldes, hat Uroma gesagt.“
Lilli musste ein bisschen über sich selber lachen. Was war sie doch für ein Feigling!
Da, ein Funke blitzte vor ihren Augen auf. Es war eine flinke hellblaue Libelle. Lilli überlegte laut: „Hm, Libellen sind doch am Wasser zu Hause. Also wenn ich ihr nachgehe…“
Das Mädchen folgte der schimmernden Libelle. Und richtig, sie führte Lillie direkt zu einem kleinen verborgenen Waldsee. Man hätte ihn glatt übersehen können, so zugewachsen war sein Ufer, die Lichtung zum Teil von Dickicht verstellt. Aber die Libelle hatte Lilli durch den einzigen Zugang geführt.
Am Ufer des Sees stand eine alte verfallende Hütte, die von Efeu zugewachsen war. Die Tür war aus der Angel gefallen und im Innern konnte man nur einen umgefallenen verwitterten Holzstuhl und ein paar Holzmörser sehen.
„Wow!“ rief Lilli. „Wie im Märchen!“ Sie ahnte, dass dort seit mehreren hundert Jahren niemand mehr lebte.
Der See lag still. Seine Oberfläche war glatt wie ein Spiegel. Nur ein paar Wasserläufer ließen kleine Ringe auf dem Wasser entstehen. Ein Frosch sprang bei Lilli Auftauchen erschrocken vom Seerosenblatt. Lilli glaubte, ein „Ach du grüne Neune!“ gehört zu haben, doch sie meinte, sie müsse sich wohl getäuscht haben. Denn seit wann können Frösche reden?
Lilli suchte eine Stelle, an der sie durch die Binsen bis ans Ufer treten konnte. Dort hockte sie sich hin und nahm ihren Cent fest in ihre Faust. Sie schloss die Augen und wünschte sich, dass alles, alles wieder gut wäre. Dann warf sie den Cent in den See. Plopp! Das Wasser verschlang das Geldstück. Kleine Kreise breiteten sich darum aus.
Lilli wartete. Sie blinzelte. War es das? Hatte es funktioniert? Sie fühlte sich schon ein kleines bisschen besser. Der Ärger in der Schule war aber noch nicht ganz vergessen. Morgen könnte das Problem von neuem beginnen. Und wie sollte sie mit Uromas Tod fertig werden? Papa hatte gesagt, die Toten kann man nicht wieder aufwecken. Sollte sie ihre liebe Uromi wirklich nie wiedersehen? Nie wieder ihre vielen kleinen bunten Thüringer Kuchen essen? Nie wieder ihre Geschichten hören?
Als nichts geschah, außer dass die Ringe auf der Wasseroberfläche verschwunden waren, beugte Lilli sich enttäuscht über das Wasser.
„Mist, das funktioniert wohl nicht“, seufzte sie.
Doch da erschien plötzlich in ihrem eigenen Spiegelbild ein Lächeln. Und das, obwohl Lilli so was von gar nicht lächelte!
Da zog sich das Näschen kraus. Und das, obwohl Lilli das nicht tat. Da nickte der Kopf. Und das, obwohl Lilli den Kopf schüttelte. Sie fuhr erschrocken zurück.
„Cool bleiben“, murmelte Lilli sich selbst zu.
„Cool bleiben, was ist das denn?“, fragte da eine Mädchenstimme.
Lilli schaute sich erschrocken um, dass ihre dunklen Haare flogen.
„Wer ist da?“ fragte sie atemlos.
„Was meinst du denn?“, sagte die Stimme. „Du hast mir doch dieses Geldstück gegeben und mich um Hilfe gebeten.“
„Dich?“ fragte Lilli. „Du klingst wie ein Mädchen. Ich dachte, es wohne ein mächtiger Zauberer im See oder so.“
Die Stimme lachte. „Ein mächtiger Zauberer? Das ist ein Märchen. Ich bin das Mädchen vom Pfennigsee. Man nannte mich Hanna. Und wie nennt man dich?“
„Lilli. Ich bin neu in der Gegend. Wir sind erst zugezogen.“
„Und deshalb hast du Kummer?“ fragte Hanna.
„Ja“, gab Lilli zu. „Aber, sag mal, Hanna, auch wenn du kein Zauberer bist, kannst du trotzdem Wünsche erfüllen?“
„ Oh, jeder kann das“, sagte Hanna leichthin. „Und ich habe außerdem das Heilen gelernt. Deshalb kommen die Menschen gemeinhin zum Pfennigsee. Sie werfen einen Pfennig hinein, und ich heile sie.“
„Pfennige gibt es gar nicht mehr“, sagte Lilli wichtigtuerisch.
„Egal“, sagte die Stimme des Mädchens aus dem See leichthin.
„Heilen?“ fragte Lilli.“ Bis du so was wie eine Ärztin oder was?“
„Ich heile mit Hilfe von Kräutern“, erklärte Hanna.
„Kräuter?“ wunderte sich Lilli. „Ich kenne nur Petersilie, die esse ich gern. Und… und Knoblauch, den mag ich nicht. Aber meine Eltern machen den überall dran und sagen, er sei gesund.“ Lilli verzog das Gesicht.
Das Mädchen im See lachte wieder. „Da haben deine Eltern recht“, sagte sie.
„Gibt es auch ein Kraut, das meiner Oma helfen kann?“
„Was hat sie denn?“
„Sie ist gestorben“, antwortete Lilli.
„Dagegen gibt es keine Medizin, Lilli“, sagte Hanna. „Ich werde dir aber einen Trank gegen den Kummer machen. Komm in einer Woche wieder.“
Lilli nickte, schnappte ihre Schultasche und drehte sich um. Als sie noch einmal zurückblickte, winkte ihr eine Hand, die mitten aus dem See gekommen war.

II
Lilli lief auf den See zu. Der Nachmittag war schon weit vorangeschritten, denn sie hatte lange in der Schule sitzen müssen. Der Eichelhäher schrie warnend, doch Lilli erschrak nicht mehr. Sie wußte, dass sie nicht allein hier war, denn Hanna, das Mädchen im See wartete gewiß auf Lilli.
Als sie die Lichtung betrat, sah sie am Ufer des Sees ein Mädchen stehen, das so alt wie Lilli zu sein schien. Es hatte rotes Haar, das sich um ihr herzförmiges Gesicht wand und bis zu ihren Kniekehlen reichte.
„Hallo“, rief Lilli, und das Mädchen aus dem See wünschte ihr fröhlich einen guten Tag.
„Wow, hast du schöne Haare“ sagte Lilli, als sie vor Hanna stand, die genauso groß wie Lilli war.
Hanna lachte, dass die Sommersprossen auf ihrem Gesicht tanzten. „Mein Vater hat immer gesagt, mein Haar sei widerspenstig wie der alte Esel von Müllers.“
„Das war nicht nett“, sagte Lilli.
„Aber er hatte recht“, sagte Hanna. „Denn es ist kaum zu bändigen. Mutter hat es mir morgens immer geflochten, doch schon zum Mittagsbrot ragten ganze Büschel aus dem Zopf“.
„Und diesen Müller und seinen Esel gab es wirklich?“ fragte Lilli.
„Ja, Lilli, ich erzähl es dir“, begann Hanna ihre Geschichte.

„Weißt du, die Mühle am Fluß dort vorn gehörte einem alten Müller, dessen Esel so alt wie er zu sein schien. Die beiden, fanden wir immer, sahen aus wie Brüder. Und sie waren beide stur und unbeugsam. Manch ein Dorfbewohner musste lange warten, bis sein Getreide zu Mehl gemahlen wurde, wenn er es zur Mühle brachte. Niemals hat der Müller auch nur einen Pfennig Erlass auf seine Arbeit gegeben noch schneller gearbeitet. Deshalb habe ich immer gesagt, vielleicht sei mein Haar auch so stur wie der Müller. Und dann hat Papa gelacht.“

„Erzähl mir mehr von eurem Leben“, bat Lilli.

„Wir haben in dieser Hütte dort gewohnt. Und sie war das schönste Heim der Welt.“

„So weit weg vom Dorf?“ staunte Lilli. „War das nicht einsam? Und verdammt langweilig?“

Hanna schüttelte den Kopf. „Manchmal ging Vater ins Dorf, um dort Waren zu tauschen. ‚Kommst du mit?’ fragte er dann mit seiner warmen Stimme, und ich nickte immer. Wir nahmen einen großen Korb mit vielerlei Dingen, du weißt schon, Kräuter und Rüben aus unserem Garten, ein paar geschnitzte Tiere, die Vater gemacht hatte, und dann machten wir uns auf den Weg. Für meine kurzen Beine war es ein weiter Weg, deshalb ließ Vater mich manchmal auf seinen Schultern reiten, das war das Beste. Im Dorf angekommen ging Vater immer zuerst zu einer kleinen Scheune. Er schob eine kleine, quietschende mit Spinnweben überzogene Tür auf, und ich huschte hinein. Es roch nach Stroh und Heu und nach den Schweinen, die meist im Hof oder im Haus herumliefen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Vorsichtig tastete ich mich vor. Meine Hand fand schließlich etwas Hartes. Ich grub meine Hände ins Stroh und holte Eier und selbstgestrickte Socken und manchmal auch ein Glas Honig hervor. ‚Aber wer hat uns das hingelegt, Papa?’ fragte ich dann stets. ‚Vielleicht die guten Dorfwichtel?’ lachte Vater und steckte die Sachen fröhlich in den Korb. Dann brachten wir unsere Sachen zum Händler. Unterwegs nickten Vater ein paar Dorfbewohner verstohlen zu, doch niemand trat auf uns beide zu und begrüßte uns, wie es sonst üblich war. Die frechen Dorfjungen, die Steine zum Spiel in einen Kalkreis warfen, zielten einmal etwas höher und weiter und trafen Vater an der nackten Ferse. Ich hörte, wie Vater schmerzvoll ausatmete. Doch er blickte nur streng die Bengel an, sagte aber nichts.

„Dann wart ihr nicht wie die anderen?“ fragte Lilli. „Das kommt mir bekannt vor. Wart ihr auch Fremde, so wie wir?“

„Anfangs“, berichtete Hanna „wusste ich auch nicht, warum wir nicht zum Dorf dazu gehören sollten. Doch dann erzählte mir Vater auf dem Nachhauseweg, warum wir so merkwürdig behandelt wurden. Mein Vater war im Dorf geboren. Doch meine Mutter war eine Zugezogene. Eines Tages war sie im Dorf erschienen. Sie kam mit einer Gruppe Landstreicher. Die Dorfleute hatten verächtlich auf das fremde Volk geschaut. Niemand hatte gefragt, ob den Leuten ein Unglück geschehen sei. Doch genau so war es. Sie waren aus ihrem Dorf im Norden von grausamen Nordmännern vertrieben worden“.

Lilli nickte. „Davon habe ich in der Schule gehört.“

„Meine Mutter“ erzählte Hanna weiter, „hatte rotes zerzaustes Haar und stand wie der Teufel persönlich inmitten ihrer Leute. Doch ein Blick ihrer taubengrauen Augen traf einen der Männer des Dorfes sogleich ins Herz. Er hörte nicht mehr das warnende Zischen seiner Leute, hörte nicht das Jammern seiner alten Mutter noch des Pfarrers strenges Räuspern. Er ging hinüber und reichte der schönen Fremden Wasser aus dem Dorfbrunnen. Und so blieb Maeve, die Rothaarige aus dem Norden, im Dorf. Heinrich, mein Vater, baute eine Hütte am Waldsee, um dort mit seiner Frau zu leben. Und nach einiger Zeit brachte Maeve ihm ein Kind zur Welt.“

„Lass mich raten“ sagte Lilli. „Das warst du!“
Hanna nickte.

„Im Dorf aber wisperte man: ‚Rote Haare, wie die Mutter, auch ein Kind des Teufels. Wie sollte es auch nicht?’
‚Hexenmädel’, riefen die Dorfkinder, wenn ich durchs Dorf ging. Darüber war ich zutiefst verwundert, denn Mutter war sanft und tat niemandem etwas zuleide. Das einzig Wilde an ihr war eben ihr Haar, ganz wie bei mir. Mutter kannte sich gut mit Kräutern und Tinkturen gegen alle möglichen Krankheiten aus.
Mich haben die Pflanzen immer gelangweilt. Ich verstand anfangs nicht, warum sie die Kräuter hegte und pflegte, als wären sie ihre Kinder. Sie sorgte sich stets um alle Lebewesen. Sie sagte immer: ‚Merk dir gut: Alles ist eins, Hanna.’ Manchmal kam spät abends einer aus dem Dorf zu ihr und bat um eine Medizin für ein Leiden, das nicht weggehen wollte. Sie half immer. Und trotzdem waren die Leute nie freundlich zu unserer Familie.“

„Dann hattest du überhaupt keine Freunde?“ fragte Lilli.

„Die ersten Jahre nicht“, antwortete Hanna. „Niemand traute sich, mit mir zu reden. Aber einen gab es doch, der dann mein Freund wurde. Er hieß Hannes. Anfangs sah es nicht danach aus, dass wir je Freunde werden würden, denn er war der frechste Kerl von allen. Aber er brach sich beim Streunen ein Bein. Ich fand ihn, schimpfend wie ein Rohrspatz im Wald, nahe der Mühle. Wahrscheinlich wollte er den Müller ärgern und Löcher in die Säcke schneiden. Und obwohl Hannes mich beschimpfte, als würde ich ihm die Haut abziehen, schiente ich sein Bein und gab ihm Mädesüß, einen Kräutertrank gegen den Schmerz.“

„Wir nehmen Aspirin, ein Antibiotikum“, unterbrach Lilli.

„Oh, ich nehme an, das ist dasselbe, aber Mädesüß wird von der Natur gemacht.“
„Nicht in der Chemiefabrik also?“ fragte Lilli. Hanna blickte sie ratlos an, offenbar hatte sie keine Ahnung, was das sein sollte. Dann erzählte sie weiter.

Cyrano de Bergerac für Kinder


Nach Edmond Rostands Versdrama

Als ich meinen Helden sah (1. Kapitel)

Ich ging meinem Vater genau bis zum Bauchnabel. Endlich, endlich! An dem Tage, an dem ich ihm bis zum Bauchnabel reichen würde, hatte mir mein Vater versprochen, würde er mich mit ins Theater nehmen. Ich war nun groß genug, um eine dieser sagenhaften Vorstellungen sehen zu dürfen. Wie hatte ich mich darauf gefreut! Unsere Magd Anne hatte mich in meinen besten Anzug gesteckt, kräftig in ihre Hände gespuckt und mir die Locken gebändigt- igitt! Aber was ließ ich nicht alles über mich ergehen, wenn ich nur endlich mit ins Theater dürfte.
Vater und ich waren mit unserer alten klappernden Kutsche über das dampfende Kopfsteinpflaster von Paris gerattert und vorm Hotel de Bourgogne, in dem das Theater stattfinden sollte, vorgefahren. Wir drängten uns durch den von allerlei Volk verstopften Eingang des Theaters. Musketiere schoben sich mit kräftigen Armen durch die Menge, verhärmte Mägde huschten schweigend herum, stinkende Landsknechte grölten angetrunken, vornehme Damen und Herren stolzierten wie Pfaue herausgeputzt herum. Alle, alle wollten die Vorstellung sehen! Ein unglaublich dicker schwitzender Bäcker bezahlte am Eingang statt mit Frances mit fünf Pasteten und vier Sahneschnitten, ich sah gerade noch, wie die fünfte Leckerei im Munde eines frechen Gesellen hinter ihm verschwand, wofür ihm der Bäcker eine schallende Ohrfeige verabreichte.
Wir betraten den riesigen Saal, in dem just in diesem Augenblick ein dutzend Leuchter mit brennenden Kerzen hochgezogen wurden, die den Raum in ein geheimnisvolles Licht tauchten. Es roch nach Rauch und Schweiß und Wein, nach Braten und Rosen und nassen Kleidern. Landsknechte vertrieben sich die Zeit bis zum Beginn des Theaters mit Kartenspielen und Raufen.
„Wie heißt das Stück, Vater, und wer spielt?“ fragte ich.
„Ein Meisterwerk, und ein Meister wird es spielen, mein Kind. Montfleury mit Namen“, antwortete mein Vater.
„Und Cyrano de Bergerac, Vater, wird er da sein?“
„Ja, sicher“, antwortete die tiefe Stimme eines der Herren neben uns und lachte. „Das wird er sich nicht nehmen lassen. Cyrano hat Montfleury den Auftritt auf Wochen verboten.“
Und er rieb sich die tintenbeklecksten Hände in Vorfreude auf das Spektakel. Was würde der stolze Cyrano tun, der sich ganz gewiss nicht auf seiner Nase herum tanzen ließ? Denn mit dieser Nase hatte es so seine besondere Bewandtnis. Sie war nämlich, so erzählte man sich, riesig.
Allmählich trat gespannte Stille im Saale ein. Der Vorhang öffnete sich, und ein dicker Mann mit quietschbuntem Kostüm erschien. Er trug soviel Farbe im Gesicht, das man selbiges nur noch erahnen konnte. Ich fand, er sah aus wie eine bunt garnierte Sahnetorte.
„Montfleury“, raunte mir mein Vater zu.
Die Sahnetorte begann mit schnarrender und stockender Stimme, einen Text vorzutragen. Doch schon wurde er unterbrochen von einem einzigen Wort aus den Logen, scharf wie ein Säbelstoß:
„Dummkopf!“
Die Sahnetorte räusperte sich und hub noch einmal an…
Da dröhnte es aus der hintersten Ecke: „Schurke, hab ich dir nicht verboten, die Bühne zu betreten?“
Und der Schatten einer langen Nase erschien an der Wand: Cyrano!
In der Loge trat ein Mann ins Licht, ein stattlicher Herr in der schmucken Uniform der Cascogner Kadetten, doch mit einer unglaublich riesigen Nase im finsteren Gesicht. Das musste er sein, mein Held Cyrano!
Und nun ging alles ganz schnell. Cyrano kam polternd die hölzerne Stiege herunter und verjagte im Handumdrehen die dichtende bunte Sahnetorte von der Bühne. Einen ganzen Beutel voller Geld warf er dem entrüsteten Publikum zur Entschädigung lachend und höhnend vor die Füße. Und dann zettelte Cyrano de Bergerac einen Streit nach dem anderen an. Wer ihm bloß ins Gesicht schaute, schwups, den verdächtigte er schon, seine wirklich enorme Nase angestarrt zu haben. Ich musste grinsen: Wo sollte man sonst hinschauen?
Meine Augen und Ohren kamen kaum hinterher, Cyrano forderte einen nach dem anderen, ja er forderte den ganzen Saal zum Duell! War das ein Kerl. Keinen Respekt hatte der, vor nichts und niemandem. Doch so leicht ließ sich keiner auf einen Kampf mit dem großen Fechter, als der Cyrano bekannt war, ein. Einer jedoch war dumm genug, sich reizen zu lassen und trat vor.
„Das ist Valvert“, raunte der Mann neben uns. „Soll die da heiraten.“ Er wies auf eine schöne Dame in der Loge, die sich eine Maske vors Gesicht hielt. „Madeleine Robert, genannt Roxane. Neben ihr das lange dürre Gerippe ist Graf Quiche, in sie verliebt.“
Roxane ihrerseits, so erkannte ich, hatte anscheinend nur Augen für einen jungen Kavalier, einen schönen jungen Mann mit dunklen langen Locken, der unweit von uns stand. Der junge Geck seinerseits schaute unverwandt zu ihr hinauf. Doch auch Cyrano verneigte sich vor der schönen Roxane. Er rief:
„Weg den Mantel, weg den Hut,
Geht beiseite, freie Bahn!
Aufgepaßt, hier fließt gleich Blut.
Seht euch vor, mein Herr Galan,
Denn beim letzten Verse stech ich!

Was glaubt ihr, wer fing Cyranos Hut auf, den er währenddessen in hohem Bogen in die Menge geworfen hatte? Atemlos drückte ich das große schwarze Ding mit der Feder, das auf mich zugeflogen kam wie ein riesiger Rabe, an meine Brust, in der mein Herz flatterte. Ich atmete den herben Geruch meines Helden, den Geruch von Abenteuer, Blut und Pferden. Währenddessen ließ ich meine Augen nicht von dem Kampfe. Doch Cyrano focht nicht nur grandios, sondern er führte gleichzeitig ein Gefecht aus Worten und Widerworten mit seinem Gegner. Und ob ihrs glaubt oder nicht, das Verrückteste dabei war, er dichtete auch noch! Ein Feuerwerk an Worten ging auf uns alle nieder. Und ob ihr’s glaubt oder nicht, es ging dabei um Cyranos eigene Nase. Valvert hatte versucht, Cyrano zu beleidigen, doch er hatte nur ein fades „Hampelmann“ herausgebracht, und ob die Nase nicht recht groß wäre? Cyrano jedoch meinte, man könnte soviel mehr über seine Nase sagen, und dies jedes Mal in einem anderen Ton:

„Unverschämt: Potz Donnerkiel,
Hätt ich so’n Ding, ich ließ mir’s amputieren!
Freundlich: Es muß Euch doch beim Trinken sehr genieren;
Nehmt lieber einen Humpen statt der Tasse.
Schildernd: Ein Kap. Ein Pik. Nein, eine Felsenmasse!
Anmutig: Für die lieben Vögelein, soll das gewiß ein Ruheplätzchen sein.
Sie klammern sich dran fest mit ihren Klauen
Und können drinnen ihre Nester bauen.
Neidisch: Es geschieht wohl nicht so leicht,
Dass, sei der Herbstwind noch so kalt und feucht
Und tobten noch so wild die Elemente
Die ganze Nase Schnupfen führen könnte?“

Oh, es gab im Publikum nun viele Lacher und auch Schreckensschreie, denn der Herr Cyrano focht wie der Teufel, und seine Worte waren noch geschwinder und trafen immer ins Schwarze.
Cyrano entwaffnete schließlich Valvert, dann aber stieß er ihn nur leicht mit seiner spitzen Nase an und sagte:
„Denn beim letzten Verse…“ alles hielt den Atmen an. Würde er es tun? „… stech ich.“ vollendete Cyrano seinen Satz und steckte den Degen ein.
Alles brüllte vor Lachen. Cyrano verneigte sich nach allen Seiten. Doch der niederträchtige Valvert konnte die Schande nicht auf sich sitzen lassen. Er erhob sich hinter Cyranos Rücken, nahm den Degen und griff meinen Helden von hinten an. Dieser gottlose Feigling! Die Menge schrie erschrocken auf. Doch Cyrano reagierte ebenso blitzschnell, wie er denken und reden konnte. Dann sprach er, den Degen in Valverts Brust gerammt, die letzte Strophe:
„Schick jetzt schnell nach dem Kaplan
Denn du bist schon recht gebrechlich.
Finte. Quart. Da liegt der Mann.
Denn beim letzten Verse stech ich.“

Die Menge stand einen Moment entsetzt und ratlos, dann zogen die Männer ihre kreidebleichen Frauen weg und alles lief durcheinander. Nein, damit wollte keiner etwas zu tun haben, man hatte doch nur etwas Theater anschauen wollen, und jetzt floss hier das Blut eines Ehrenmannes auf den Platz. Ich stand still inmitten des Trubels. Noch immer hielt ich Cyrano de Bergeracs Hut an die Brust gedrückt.