Der Elefant, der eine Elfe sein wollte

Kinderbuchmanuskript
Der Elefant, der eine Elfe sein wollte

Doro Herrmann

Bhanu, der Elefant, lebte in Indien als Waldarbeiter. Stolz zog er jeden Morgen mit seinen Kollegen, den anderen Arbeitselefanten und ihren Hütern, den Mahuts, in den Wald. Menschen und Tiere räumten gemeinsam Baumstämme weg, stießen Bäume um und stapelten Holz auf. Die Arbeit war schwer, und je schwerer sie war, umso stolzer zogen die Elefanten am Abend heim. Sie berichteten einander abends im Lager noch lange von ihren Heldentaten.

Bhanus Mahut trug den Namen Amit. Er war ein freundlicher junger Mann, der den ganzen Tag vor sich hin pfiff und immer ein gutes Wort für seinen Elefanten hatte. Die beiden kannten sich schon seit der Elefantenschule. Dort hatte Amit Bhanu gezähmt und ihm alles beigebracht, was ein Arbeitselefant wissen musste. Bhanu hatte sich jeden Morgen nach dem Aufwachen darauf gefreut, dass Amit ihn bald rufen würde, damit sie zusammen zur Arbeit gingen.

Doch eines Morgens erschien Amit nicht. Die anderen Arbeitselefanten waren bereits mit ihren Mahuts unterwegs, da tauchte hinter den Büschen ein Fremder auf. Wie aus dem Nichts spürte Bhanu einen Schmerz an seiner Seite. Nur langsam begriff der Elefant, dass der Fremde ihn mit der Peitsche in seiner Hand geschlagen haben musste. Drohend hob der Mann die Peitsche, und Bhanu setzte sich verwirrt in Bewegung. So lang war ihm der Weg zur Arbeit noch nie vorgekommen. Und so lang war Bhanu auch noch kein Arbeitstag erschienen. Er sehnte sich nach Amits fröhlichem Pfeifen. Doch er hörte nur das Surren der Peitsche hinter sich. Am Abend konnte Bhanu nicht einschlafen. Was war mit Amit geschehen? Warum kam er nicht mehr? Sollte er, Bhanu, von nun an jeden Tag mit diesem neuen grausamen Mahut zusammen arbeiten?

Amit kam nicht mehr. Bhanu machte sich Gedanken − vielleicht war Amit krank? Oder er war in die Stadt gegangen?
Jeden Morgen erschien statt des fröhlichen jungen Mannes nun Pradam, der neue Mahut, mit seiner Peitsche. Bhanu seufzte. Er ermüdete nun schneller bei der Arbeit.

Doch eines Tages, als Bhanu vor Erschöpfung kurz die Augen schloss, kitzelte es ihn am Rüsselende. Sofort öffnete der Elefant die Augen. Er blickte direkt in winzige Smaragde, die dicht vor ihm schwebten. Bhanu kniff die Augen wieder zusammen und öffnete sie abermals. Da sah er ein winziges Gesicht um die grünen Augen herum, das einem winzigen Wesen gehörte, auf dessen Rücken fast durchsichtige Flügel sirrten. Das Wesen tänzelte vor Bhanus Augen durch die Luft und pfiff eine fröhliche Melodie.

Bhanu öffnete schließlich den Mund und fragte: „Wer …?“
Doch das Wesen schoss augenblicklich hinter einen Baum. Bhanu begriff, er war zu laut gewesen. Also flüsterte er so leise, wie ein Elefant flüstern kann: „Wer bist du?“
Das Wesen steckte den Kopf hinter dem Baum hervor und antwortete irgendetwas. Bhanus riesige Ohren vernahmen nur ein leises Summen und so zuckte er mit den Elefantenschultern. Da flatterte das Wesen dicht an Bhanus Kopf heran, formte die winzigen Hände zu einem Trichter und rief so laut, wie eine Elfe nur rufen kann: „Ich bin eine Elfe und man nennt mich Sanjana.“
„So ein schöner Name, genauso schön wie du“, staunte Bhanu.

Bhanu fragte die Elfe:„Verrätst du mir, wie ist es zu fliegen?“
Sanjana lachte wieder.
„Es ist wunderbar“, sagte sie. „Man kann sehen, wie ein Frosch sieht, man kann sehen, wie ein Reh sieht, und man kann sehen, wie ein Adler sieht. Man kann das Moos berühren, sich auf den höchsten Wipfeln der Bäume wiegen. Und man kann die Welt von ganz, ganz oben sehen.“
Bhanu hatte gespannt zugehört.
„Das will ich auch“, rief er dann aus.
Sanjana lachte.
„Sag mal, lachst du mich aus?“ fragte Bhanu misstrauisch.
„Nein, nein“, antwortete sie. „Ich freue mich, dass du Träume hast. Weißt du“, sagte sie und flog dicht an Bhanus Ohr heran, „Träume lassen Flügel wachsen.“
Dann drehte die Elfe eine Runde um Bhanus erhobenen Rüssel und verschwand über den Wipfeln der Bäume im unendlichen Blau.

Da surrte Pradams Peitsche durch die Luft, und Bhanu machte sich wieder an seine Arbeit. Doch er dachte die ganze Zeit an die Elfe Sanjana. So zart und anmutig war sie gewesen. Wie mochte es sich nur anfühlen, durch den Wald zu flattern statt zu stampfen?
„Ich will auch fliegen“, sagte sich Bhanu immer wieder. „Und tanzen.“
„Ha“, rief da ein anderer Arbeitselefant. „Bhanu will wohl eine Elfe sein!“ Die anderen Elefanten grinsten.

Abends, im Lager der Arbeitselefanten, erzählte Bhanu seinen Kollegen von seiner Begegnung mit Sanjana. Die anderen Elefanten staunten zuerst, doch dann lachten sie laut. Keiner von ihnen schien jemals eine Elfe gesehen zu haben.
„Was man nicht sieht“, rief Vidur, der Älteste, „das gibt es auch nicht.“
Die anderen Elefanten nickten mit ihren riesigen Köpfen, dass die Ohren nur so schlackerten. Bhanu ließ den Kopf sinken und schwieg. Er wusste plötzlich selbst nicht mehr genau, ob er nicht doch nur geträumt hatte. Aber in der Nacht war ihm, als flöge er durch den Wald, mit durchsichtigen Flügeln. Und neben ihm flog Sanjana, die winzige Elfe.

Bhanu zog weiterhin jeden Morgen mit den anderen Arbeitselefanten hinaus. Doch er hielt immerzu Ausschau nach Sanjana.
„He, Bhanu“, schrie Pradam und schlug den armen Elefanten mit dem Stock auf den Hintern. „Du träumst wohl?“
Bhanu träumte tatsächlich. Doch alle Schläge und jeder Spott konnten ihn nicht davon abbringen. Woche um Woche verging, und Bhanu konnte noch immer an nichts anderes denken als an seinen Wunsch, eine Elfe zu sein. Jeden Abend hoffte er, ihm würden Flügel wachsen, so, wie die Elfe gesagt hatte. Doch nichts geschah.

Eines Tages begegnete Bhanu einer Spinne, die ihr Netz an einem der Bäume gesponnen hatte, den er umwerfen sollte.
„Lass den Baum stehen, ich bitte dich“, sagte die Spinne. „Ich gebe dir auch einen Rat.“
Denn es hatte sich natürlich längst im Wald herumgesprochen, dass der verrückte Bhanu eine Elfe sein und fliegen können wollte. Bhanu warf einen Blick zu seinem Mahut hinüber, der gerade im Schatten ein Nickerchen hielt.
„Na gut“, sagte Bhanu, „aber kannst du mir denn helfen, klein zu werden wie eine Elfe?“
„Das wohl nicht“, sagte die Spinne. „Aber ich verrate dir etwas anderes. Sieh mal her, Netze federn.“
Und sie hüpfte auf ihrem Netz auf und ab und flog dabei in die Höhe. Begeistert schaute Bhanu zu. Doch dann fiel ihm etwas ein.
„Ich bin doch viel zu groß für so ein Spinnennetz“, sagte er.
„Dann bau dir eben ein Netz, das dich aushält“, antwortete die Spinne.

Und so begann Bhanu heimlich auf dem Weg zur Arbeit und zurück, über eine Grube biegsame Stämme zu legen. Einen nach dem anderen, so dass sie ein Netz bildeten. Eines

Abends erschien die Elfe Sanjana wieder. Sie saß plötzlich auf Bhanus Stoßzahn, während er einen Stamm auf die anderen schob und rief: „Oh, ein Trampolin! Damit wirst du ja fliegen können.“
„Das hoffe ich“ antwortete Bhanu. „Obwohl …“
„Kein Obwohl!“, fiel ihm die Elfe ins Wort. „Zweifel machen einen ganz schwer. Damit kann man nicht fliegen. Nie und nimmermehr!“
„Nicht?“, fragte Bhanu erstaunt.
„Nicht mal, wenn man so klein ist wie ich!“ antwortete Sanjana. „Wenn du Zweifel hast, bist du dann so schwer wie ich?“, fragte Bhanu und zwinkerte mit seinen kleinen Elefantenaugen.
„Ja, so schwer wie du. Und alle deine Kollegen zusammen!“, lachte Sanjana.
.

Schließlich kam der Tag, da war Bhanus Netz fertig. Während der Mittagspause, in der die Elefanten normalerweise von ihren Mahuts im Fluss gebadet wurden, stampfte Bhanu zu der Lichtung. Sanjana umflatterte den Elefanten und gab ihm aufmunternde Klapse. Vorsichtig setzte Bhanu einen Fuß auf das Holz.
Sanjana rief: „Siehst du, es hält. Nur weiter!“
Bhanu setzte den zweiten Fuß darauf, dann den dritten. Und schließlich stand der große, schwere Elefant auf seinem selbstgebauten Trampolin.
Bhanu hielt den Atem an. Er traute sich kaum, sich zu rühren. Sanjana flatterte vor den weitaufgerissenen Augen ihres Freundes auf und ab. „Prima!“, rief sie. „Aber du wolltest doch fliegen! Los, beweg dich, Bhanu!“

Langsam begann der Elefant also zu federn. Auf und ab, auf und ab, auf und ab und … Höher und höher und immer höher sprang er. Und dann sprang er ganz hoch, höher als Sanjana flog und rief: „Juchhhuuuu, ich kann fliegen. Ich fliege wie eine Elfe!“

Die anderen Elefanten, angelockt von dem Lärm, waren inzwischen nähergekommen und staunten. Tatsächlich, da flog der Elefant Bhanu vor ihren Augen vom Waldboden bis zu den Wipfeln hinauf. Und wieder hinunter. Und wieder hinauf, noch höher diesmal. Alle Elefantenmünder standen offen. Auch die Mahuts kamen heran. Bhanu sah für einen Moment in die Augen von Pradam, seinem grausamen neuen Mahut. Doch er sah keinen Zorn darin, eher einen Funken Achtung. Bhanu aber flog längst wieder durch die Luft. Sanjana hielt sich inzwischen an seinem Rüssel fest und jauchzte begeistert.

Doch dann, kracksssss … saß Bhanu plötzlich in der Grube. Die Elefanten schauten sich an, und dann lachten sie voller Schadenfreude los. Bhanu war erschrocken. Doch die Elfe Sanjana kicherte auch und Bhanu musste schließlich selber lachen Er lachte am lautesten. Der ganze Wald bebte vom Gelächter der Elefantenherde.

Bhanu arbeitete von nun an wieder fleißig mit den anderen Elefanten im Wald. Sein neuer Mahut Pradam ließ die Peitsche öfter ruhen. Bhanu baute kein neues Netz mehr. Doch er lächelte häufiger bei der Arbeit, denn er dachte an das prickelnde Gefühl in seinem Elefantenbauch, dass er gehabt hatte, als er geflogen war. Und wenn ihn Sanjana besuchte, lachten sie gemeinsam in Erinnerung an den Tag, als Bhanu, der Elefant, auch eine Elfe gewesen war.

Chronosina, die Erfinderin der Zeit

(veröffentlichungsreiches Manuskript, Gesamttext gern auf Anfrage)

Für kleine und große Vor-und Nach-Denker

Prolog

Die Zeit.
Die Zeit ist ein komisches Ding.
Sie vergeht sehr langsam, wenn du auf etwas wartest, stimmt˚s?
Wenn du den Sandkörnern in einer Sanduhr zuschaust, rieseln sie uuunendlich laaaangsaam herunter. Und: Dauert es nicht manchmal ewig bis zum Pausenklingeln? Bis zum Eintreffen eines Päckchens? Oder bis Weihnachten, auch wenn längst Dezember ist?
Wenn du es eilig hast dagegen, rast die Zeit. Schneller, als du rennen kannst, selbst wenn du Klassenbester im Sprinten bist.
Die Zeit ist ein komisches Ding.
Ist sie eigentlich ein Ding?
Jeder redet über sie, als wäre sie eines: Ich habe keine Zeit. Hab die Zeit vergessen. Komm rechtzeitig!
„Keine Zeit, keine Zeit“, sagte das weiße Kaninchen in *Alice im Wunderland* und schaute ständig auf seine Taschenuhr.
Hast du schon einmal darüber nachgedacht, woher Zeit kommt?
Ich will dir erzählen, wie die Zeit erfunden wurde. Und wer sie erfunden hat.
War es Gott? War es ein König? Oder der Papst? Oder ein berühmter alter Erfinder?
Nein, der Erfinder der Zeit war eine Erfinderin, ein Mädchen.
Die Erfinderin der Zeit hieß Chronosina.

***

Am ersten Tag wurde von den Erfindern die Erde erschaffen.
Das Komische war nur, dass es noch gar keine Tage gab. Jedenfalls keine, die gemessen oder gezählt wurden. Die Zeit verging einfach. Verging sie dann überhaupt, wenn keiner sie maß und zählte? Die frisch erfundene Erde lag im Dunkeln.
Die Erfinder arbeiteten weiter. Einer erfand die Sonne und schuf damit das Licht auf der Erde. Stolz reckte sich der Erfinder der Sonne aus der Masse der Erfinder empor. Er hatte wahrlich etwas Großes erfunden. Alle verneigten sich vor ihm. Der Erfinder der Sonne tippte sich stolz an den Hut. Nie wieder rührte er einen Finger.
Die anderen Erfinder machten sich wieder an die Arbeit. Es gab noch viel zu tun. Einer erfand das Wasser. Ein anderer das Gewölbe und das besondere Blau des Himmels. Doch es war ein kniffeliges Problem zu lösen, denn Himmel und Meer wollten immerzu ineinander sinken. Man musste eine klare Trennlinie zwischen beiden ziehen. Viele Erfinder wurden hierbei hinzugezogen, doch schließlich gelang es. Mit vereinten Kräften schnitten sie die beiden voneinander ab. Nur manchmal, frühmorgens, wenn noch kaum einer wach war, durfte das Wasser zum Himmel hinaufsteigen. Übrigens, der Erfinder des Horizontes rührte von nun an keinen Finger mehr.

***

Die anderen Erfinder machten sich wieder an die Arbeit.
Sie gründeten Abteilungen. Die Weltallabteilung, die geologische Abteilung, die Kreaturenabteilung, die Vegetationsabteilung…
In der Weltallabteilung wurden die Himmelskörper erfunden. Ihre Erfinder hatten viel Vergnügen, die Milchstraße, die Plejaden und alle anderen Sterne und Planeten zu erschaffen. Sie jonglierten in ihren Laboren mit den runden Himmelskörpern und ordneten sie am Himmel nach strengen wissenschaftlichen Prinzipien an.
Der junge Erfinder Lieven hatte besonders viel Phantasie. Er erblickte in einer Sternenanordnung einen Schwan. Während auf der Erde die Tiere erschaffen wurden, blickte Lieven seinem Freund, dem alten Erfinder Daribert über die Schulter und übernahm einige der gelungensten Exemplare. Lieven begann nun, am Himmel die verschiedensten Sternbilder zu erschaffen. Zunächst bildete er die Fische nach, die gerade in die Meere entlassen wurden. Später den Skorpion, den Widder, Stier und den Löwen. Du kennst natürlich den großen Wagen. Ich verrate dir was: Mit diesem hatte Lieven die anderen Sterne zu ihren Plätzen gebracht. Und nach getaner Arbeit hatte der junge Erfinder den Wagen einfach am Himmel stehen lassen, wo er bis heute verharrt. Ob er schon rostig ist?

***

Die Erfinder waren emsig gewesen und hatten immerzu etwas Neues erfunden. Sie hatten die Erdanziehungskraft erfunden, die Gezeiten, die Vulkane, die Gletscher, die Dschungel, die Wiesen, die Flüsse, die Wale, die Kängurus, die Schmetterlinge…
Doch nach vielen tausend Jahren, als die großen Gesetze und die kleinen Wunder erschaffen waren, wurde es allmählich schwierig, etwas Neues zu erfinden.
Chronosina war eine kleine Erfinderin, die zu jener Zeit lebte. Sie war ein recht ernstes Mädchen. Sie hatte die Nase immerfort in einem Buch stecken, während die gleichaltrigen Erfinder draußen herum tobten. Da waren die Erfinderin des Lachens, Sonrisa und der Erfinder des Spielens und der des Streicheausheckens. Der junge Erfinder der Liebe, Amorantian, schwebte fortwährend in den Wolken und spuckte Kirschkerne auf die Erde. Währenddessen aber saß Chronosina in ihrem Stübchen und werkelte an irgendeiner Erfindung herum. Jedoch, ihr gelang nichts. Oder sagen wir, nichts war ihr gut genug.
Die kleine Erfinderin baute zum Beispiel einen Tränentrockner, weil sie bemerkt hatte, dass die Erfindung der Liebe zu vielen Tränen geführt hatte. Er funktionierte ganz einwandfrei. Man musste nur die Hände in die Maschine legen und dann auf die Augen. Wer Liebeskummer gehabt hatte, konnte nun keine einzige Träne mehr vergießen.
Stolz präsentierte Chronosina den Tränentrockner auf der Erfinderkonferenz. Sie erntete beifälliges Kopfnicken von den ehrenwerten Herren der Erfinderzunft, den Hutträgern. So wurden die alten weisen Erfinder genannt, denn sie setzten niemals ihre Hüte ab. Der Sternbilderfinder Lieven hatte Chronosina begleitet. Er flüsterte ihr zu: „Als würde sich ihr Verstand sonst verkühlen.“ „Oder davonfliegen“, flüsterte das Mädchen zurück. „Oder als sei ihr Verstand statt im Kopf in den langen Hüten zu Hause“, kicherte Lieven.
Chronosina, die keinen Hut trug wie alle jungen Erfinder, hatte nun etwas erfunden, was sich zu bewähren hatte. Bald zeigte sich, dass ihr Tränentrockner bei den Liebenden nicht allzu begehrt war. Vielleicht lag das daran, dass Dolores, die Schwester von Amorantian, den Schmerz erfunden hatte. Und beide Geschwister gingen immer Hand in Hand. Wie auch ihre Erfindungen.
Chronosina verstand das nicht. Doch sie sah auch nicht, wie oft Sonrisa, die Erfinderin des Lachens, Hermeno, der Erfinder des Verstehens und Ignosco, der Erfinder des Verzeihens zusammen bei den Liebenden Feste feierten. Was machte es da schon, wenn auch Dolores an die Türe klopfte, hinterm Rücken einen Sack voller Tränen?
Chronosina wollte das zwar nicht in den Kopf, aber ihre Erfindung wurde einfach nicht gewürdigt. Vielleicht, dachte sie sich, bin ich einfach noch zu klein, um die Gesetze der Liebe zu verstehen? Dann werde ich eben etwas anderes erfinden!

***

Doch Chronosina kam wohl einfach zu spät. Alles war perfekt. Und auf immer sollte das unverändert so weitergehen. Doch halt: Unverändert? Auf immer? Was war dieses Immer?
Wenn es dunkel wurde, dann bemerkte die kleine Erfinderin ärgerlich, dass sie müde wurde und sich alle Gedanken und Erfindungen in ihrem Kopf zu drehen begannen. Also schlief sie. Wenn die Sonne auf Chronosinas Nase schien, dann wachte sie auf und fühlte sich wie neu geboren. Ganz frisch. Und so wusste sie, dass etwas Neues begonnen hatte. Natürlich wussten das auch die Schmetterlinge, die Hühner, Affen und die Kängurus. Auch alle anderen Erfinder bemerkten es. Doch keiner machte sich darüber Gedanken. Es war einfach so, und Schluss. Aber Chronosina beobachtete das alles genauer, und das macht schließlich einen guten Erfinder aus, nicht wahr? Sie beobachtete das Leben vor ihrem Fenster. Nichts veränderte sich. Alles blieb, wie es war. Die Erde wurde immer voller. Es gab Probleme zwischen den Menschen, die schon lange da waren und jenen, die jung waren. Immer größer wurden die Streitigkeiten zwischen ihnen.

***

Auf den Versammlungen tätschelten die Hutträger Chronosina herablassend die Haare: „Na, Kleine, meinst du, du wirst auch noch etwas erfinden?“ Anfangs sagte Chronosina stets voller Zuversicht: „Das werde ich!“
Später sagte sie nichts mehr, aber ihre Augen hinter der Brille verengten sich kämpferisch. Chronosina war sich sicher, dass es noch etwas ganz Großes zu erfinden gab.
Eines Tages saß sie mit Professor Nonkonformo auf einer Bank vor dem Versammlungsgebäude. Nonkonformo hatte die eigene Meinung erfunden. Zwar war er ein Hutträger, jedoch einer, der ab und an seinen Hut lüpfte.
„Alles ist bereits gedacht worden!“ klagte Chronosina. „Alles ist bereits gesagt worden. Alles ist schon erfunden worden, was es zu erfinden gab.“
„Nein, nein“, lachte Professor Nonkonformo. „Es gibt immer etwas zu verfinden, zu erforschen oder zu verbessern, Chronosina. Alles, was erfunden werden kann, existiert bereits. Die Erfindungen sind unendlich und sie liegen auf der Straße, man muss sie nur aufheben.“
Chronosina bedankte sich und hüpfte davon. Sie sprang eine Straße entlang, immer weiter und weiter. Und da, als sie die schnurgerade Straße anschaute, die Ferne und das, was hinter ihr lag, ging ihr plötzlich auf, was es zu er-finden gab. Den Verlauf. Den Ablauf. Das Hier und Dort. Das Jetzt und das Später. Sie drehte sich um und sah auf den Weg zurück, den sie gekommen war. Und das Früher, sagte sie sich.

***

Die kleine Erfinderin zeichnete eine Linie auf ein Blatt und schrieb Anfang und Ende darauf. Dasselbe wie für das Universum und die Welt, dachte sie sich, müsste auch für die Menschen gelten. Und dazwischen verging etwas, was Chronosina nun *die Zeit* taufte.
Da kam Aetas, ein junger Erfinder, der bisher ebenfalls noch nichts erfunden hatte, des Weges und neigte sich über die Aufzeichnung. Er war sofort Feuer und Flamme für Chronosinas Idee. Und er nahm ihr den Stift aus der Hand und teilte die Zeit, die den Menschen gegeben war, in verschiedene Etappen ein. Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, mittleres Alter und Alter.
Chronosina nickte begeistert. Diese Etappen teilte die kleine Erfinderin nun in sogenannte Jahre ein. Sie schüttelte Aetas die Hand und sprang aufgeregt nach Hause. Nun war sie dabei, die große Erfindung zu machen, die sie immer erträumt hatte. Doch die Einteilung konnte noch verfeinert werden. Chronosina beobachtete die vergehende Zeit genau. Sie entdeckte die verschiedenen Phasen der Natur, in denen diese erblühte, Früchte gab und dann einschlief. Chronosina nannte diese vier Phasen Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Und die kleine Erfinderin beobachtete außerdem, dass in einem bestimmten Rhythmus der Mond voll wurde und wieder abnahm. Anhand dessen unterteilte sie ein Jahr in sogenannte Monate.
Als der Sternbilderfinder Lieven einmal zu Besuch kam, erklärte Chronosina ihm die Erfindung. Lieven war sofort Feuer und Flamme für ihre Idee. Und er nahm ihr den Stift aus der Hand und teilte das Jahr in verschiedene Sternbildphasen ein. Je nachdem, welches der Sternbilder man in den jeweiligen Monaten jeweils besonders gut sah.
Das machte den beiden Erfindern viel Spaß, es war ein lustiges Spiel.
Später teilte Chronosina die Monate nochmals in Wochen auf. Und diese wiederum in Tage.
Dann nahm die kleine Erfinderin einen langen Stab und steckte ihn in die Erde. Die Sonne schien darauf, und der Stab warf auf die Erde seinen Schatten. Der Schatten wanderte herum. Chronosina markierte seinen Weg mit Kreide. Und dann schrieb sie Zahlen dazu und teilte so den Tag ein. In genau vierundzwanzig Stunden. Und die Stunden in sechzig Minuten. Einen Teil des Tages war es dunkel. Das nannte sie Nacht. Und das, was danach kam, nannte sie Morgen. Der Morgen ist etwas besonders Schönes, sagte sich Chronosina. Die Sonne geht rot und leuchtend auf und man fühlte sich wie neugeboren! Dann, spann sie den Faden weiter, folgt der Mittag, die Mitte des Tages. Da steht die Sonne am höchsten und alles flüchtet in den Schatten und sehnt sich nach etwas Ruhe. Schließlich kommt der Abend, da werden die Menschen und die Erfinder müde. Manche Tiere aber, wusste Chronosina, erwachen erst jetzt und gehen im Schutze der Nacht auf die Jagd. Und mitten in der Nacht, um null Uhr, beschloss die Erfinderin, beginnt unmerklich ein neuer Tag.
Chronosina war sehr zufrieden mit sich. Die Rechnung ging auf. Aufgeregt lief sie mit dem Packen ihrer Aufzeichnungen zur Erfinderkonferenz, um ihre Erfindung, die ZEIT, zu präsentieren. Was würden die ehrwürdigen Hutträger dazu sagen?

Der Engel aus der Hosentasche

(Veröffentlichungsreifes 50seitiges Kinderbuch. Bei Interesse gern mehr anfordern!)

1. Kapitel
Schokolade und Engel

„Mama, sehen so Engel aus?“
Luca stand mit großen Augen vor dem Pralinengeschäft in der kleinen Gasse im Zentrum von Venedig. Zwei dicke Engel hockten im Schaufenster und guckten gelangweilt in den Himmel. Signora Rigoletto, Lucas Mama, lächelte ihr Operndivalächeln.
„Vielleicht.“
„Haben die zu viele Pralinen gegessen?“ fragte Luca.
„Das denke ich auch“, sagte Signora Rigoletto und zog ihren Sohn über die Schwelle des herrlich duftenden Lädchens.
„Was nehmen wir Oma Ermenegilda zu Weihnachten mit?“ fragte sie in das melodische Klingeln des Türmelders hinein.
In dem kleinen, von Kerzen beleuchteten Raum bekam Luca noch größere Augen. In seinem Mund lief augenblicklich das Wasser zusammen. Kein Wunder bei all den duftenden Köstlichkeiten, die sich hier stapelten: Schokolade, Toffees, Marzipan, Nugat und Fondant und alle anderen Süßigkeiten, die sich ein Kind nur vorzustellen vermag. Dunkelbraune und milchighelle und zuckergussbunte Köstlichkeiten!
Lucas Blick verschlang all die Lutscher, Pralinen, Schokoladenfiguren und Bonbons, die sich hier türmten. Schwerer Kakao- und leichter Vanilleduft und Erdbeeraroma umschmeichelten Lucas Stupsnase. Seine Augen, selbst so groß wie zwei Riesentoffees, hingen an Weihnachtsmännern aus Schokolade mit Säcken voller bunter Karamellpralinees auf Zuckerwatteschnee.
„Weißt du, was ich mal werden will?“ fragte Luca leise und zupfte seine Mama am Arm.
„Verkäufer in einem Schokoladengeschäft?“ sagte da die dicke Verkäuferin und lachte gleich darauf laut.
„Kindchen, guck nicht so erstaunt!“ sagte sie freundlich. „Weißt du, das wollen alle Kinder, die hier herein kommen.“
Luca atmete erleichtert auf. Er dachte schon, die Frau hätte Ohren wie ein Luchs oder könnte Gedanken lesen wie eine Hexe. Ein bisschen sah sie ja aus wie letzteres! Mit ihrem roten zotteligen Haar, den grünen Katzenaugen und ihrem Rührstab, den sie herumschwenkte, als würde sie die Süßigkeiten nicht herstellen sondern vielmehr herbeizaubern. Auf dem Schildchen auf ihrer weißen Schürze stand „Es bedient Sie: Candida Fionnuala Noita. Hm, grübelte Luca, bedeutete Noita nicht tatsächlich Hexe?
Aber gleich waren Lucas Gedanken wieder bei einer anderen Frage. Er fragte sich nämlich, wie er seine Chancen erhöhen könnte, später einmal wirklich in einem solchen Laden arbeiten zu können. Denn: Wie viele Schokoladengeschäfte gibt es in einer Stadt wie Venedig und wie viele Kinder?
Luca wusste es nicht. Denn er und seine Mama, die Opernsängerin Frau Annabella Rigoletto, waren gerade erst nach Venedig gezogen. Frau Rigoletto war hier geboren worden, doch sie hatte in Berlin bei ihrem Mann gelebt. Nun war sie geschieden und hatte in ihrer alten Heimatstadt ein Engagement bekommen. Das bedeutete, sie durfte an der berühmten Oper von Venedig Abend für Abend vor Publikum singen. Mit der Oper von Venedig hatte es allerdings so seine besondere Bewandtnis. Mit Luca und seiner Mama natürlich auch. Oder denkt ihr etwa, ich erzähle euch diese Geschichte nur, um euch den Mund mit Süßem wässrig zu machen?
Lucas schlenderte weiter durch den wundervollen Laden. Plötzlich wurde der Junge aus mehreren großen Katzenaugen angestarrt. Er blieb stehen. Auf einer silbernen Platte lagen große Schokoladentaler. Darauf eingeprägt waren Löwenköpfe. Und die Löwen hatten Flügel. „Das sind „Moeca di San Marco“, sagte Candida. „Schokoladenplätzchen mit dem Markuslöwen, dem Wahrzeichen von Venedig.“
Während Signora Rigoletto zwei riesige Pralinenkästen bezahlte, die sie ausgewählt hatte, bekam Luca von der Verkäuferin eine Kostprobe. Cremige Milchschokolade mit Mandeln und Zimt, hm! Die Praline schmolz in Lucas Mund wie Butter beim Sommerpicknick. Er wischte sich den Mund und leckte sich die Finger.
„Sehen so Engel aus?“ fragte Luca noch einmal, diesmal die Verkäuferin Candida, während Mama den Laden schon verließ.
„No, Luca,“ sagte sie mit veränderter, leiser Stimme, und ihre grünen Augen funkelten. Luca hätte schwören können, er habe für einen Moment einen Raben in ihrem linken Auge flattern sehen.
„Höre“, sagte die Frau noch leiser, „Engel sehen so aus, wie der in deiner Hosentasche.“
Luca griff sich sofort an die Tasche, zunächst von außen, aber sie schien vollkommen leer. Dann von innen, und sie war vollkommen leer. Nicht mal ein alter, wieder eingewickelter Kaugummi war heute darin, keine Murmeln, Sticker oder Bonbonpapier, gar nichts.
Luca blickte fragend zu Candida auf, doch die hatte ihn bereits aus dem Laden geschoben und die Tür geschlossen. „chiuso “ stand auf dem buntbemalten Emailleschild, das vor Lucas Nase baumelte. „Geschlossen“.
Luca hörte ein Krächzen und blickte auf. Er sah einen Raben, der auf dem goldenen Ladenschild gesessen hatte und nun mit rauschenden Flügeln davonflog.