Der Engel aus der Hosentasche

(Veröffentlichungsreifes 50seitiges Kinderbuch. Bei Interesse gern mehr anfordern!)

1. Kapitel
Schokolade und Engel

„Mama, sehen so Engel aus?“
Luca stand mit großen Augen vor dem Pralinengeschäft in der kleinen Gasse im Zentrum von Venedig. Zwei dicke Engel hockten im Schaufenster und guckten gelangweilt in den Himmel. Signora Rigoletto, Lucas Mama, lächelte ihr Operndivalächeln.
„Vielleicht.“
„Haben die zu viele Pralinen gegessen?“ fragte Luca.
„Das denke ich auch“, sagte Signora Rigoletto und zog ihren Sohn über die Schwelle des herrlich duftenden Lädchens.
„Was nehmen wir Oma Ermenegilda zu Weihnachten mit?“ fragte sie in das melodische Klingeln des Türmelders hinein.
In dem kleinen, von Kerzen beleuchteten Raum bekam Luca noch größere Augen. In seinem Mund lief augenblicklich das Wasser zusammen. Kein Wunder bei all den duftenden Köstlichkeiten, die sich hier stapelten: Schokolade, Toffees, Marzipan, Nugat und Fondant und alle anderen Süßigkeiten, die sich ein Kind nur vorzustellen vermag. Dunkelbraune und milchighelle und zuckergussbunte Köstlichkeiten!
Lucas Blick verschlang all die Lutscher, Pralinen, Schokoladenfiguren und Bonbons, die sich hier türmten. Schwerer Kakao- und leichter Vanilleduft und Erdbeeraroma umschmeichelten Lucas Stupsnase. Seine Augen, selbst so groß wie zwei Riesentoffees, hingen an Weihnachtsmännern aus Schokolade mit Säcken voller bunter Karamellpralinees auf Zuckerwatteschnee.
„Weißt du, was ich mal werden will?“ fragte Luca leise und zupfte seine Mama am Arm.
„Verkäufer in einem Schokoladengeschäft?“ sagte da die dicke Verkäuferin und lachte gleich darauf laut.
„Kindchen, guck nicht so erstaunt!“ sagte sie freundlich. „Weißt du, das wollen alle Kinder, die hier herein kommen.“
Luca atmete erleichtert auf. Er dachte schon, die Frau hätte Ohren wie ein Luchs oder könnte Gedanken lesen wie eine Hexe. Ein bisschen sah sie ja aus wie letzteres! Mit ihrem roten zotteligen Haar, den grünen Katzenaugen und ihrem Rührstab, den sie herumschwenkte, als würde sie die Süßigkeiten nicht herstellen sondern vielmehr herbeizaubern. Auf dem Schildchen auf ihrer weißen Schürze stand „Es bedient Sie: Candida Fionnuala Noita. Hm, grübelte Luca, bedeutete Noita nicht tatsächlich Hexe?
Aber gleich waren Lucas Gedanken wieder bei einer anderen Frage. Er fragte sich nämlich, wie er seine Chancen erhöhen könnte, später einmal wirklich in einem solchen Laden arbeiten zu können. Denn: Wie viele Schokoladengeschäfte gibt es in einer Stadt wie Venedig und wie viele Kinder?
Luca wusste es nicht. Denn er und seine Mama, die Opernsängerin Frau Annabella Rigoletto, waren gerade erst nach Venedig gezogen. Frau Rigoletto war hier geboren worden, doch sie hatte in Berlin bei ihrem Mann gelebt. Nun war sie geschieden und hatte in ihrer alten Heimatstadt ein Engagement bekommen. Das bedeutete, sie durfte an der berühmten Oper von Venedig Abend für Abend vor Publikum singen. Mit der Oper von Venedig hatte es allerdings so seine besondere Bewandtnis. Mit Luca und seiner Mama natürlich auch. Oder denkt ihr etwa, ich erzähle euch diese Geschichte nur, um euch den Mund mit Süßem wässrig zu machen?
Lucas schlenderte weiter durch den wundervollen Laden. Plötzlich wurde der Junge aus mehreren großen Katzenaugen angestarrt. Er blieb stehen. Auf einer silbernen Platte lagen große Schokoladentaler. Darauf eingeprägt waren Löwenköpfe. Und die Löwen hatten Flügel. „Das sind „Moeca di San Marco“, sagte Candida. „Schokoladenplätzchen mit dem Markuslöwen, dem Wahrzeichen von Venedig.“
Während Signora Rigoletto zwei riesige Pralinenkästen bezahlte, die sie ausgewählt hatte, bekam Luca von der Verkäuferin eine Kostprobe. Cremige Milchschokolade mit Mandeln und Zimt, hm! Die Praline schmolz in Lucas Mund wie Butter beim Sommerpicknick. Er wischte sich den Mund und leckte sich die Finger.
„Sehen so Engel aus?“ fragte Luca noch einmal, diesmal die Verkäuferin Candida, während Mama den Laden schon verließ.
„No, Luca,“ sagte sie mit veränderter, leiser Stimme, und ihre grünen Augen funkelten. Luca hätte schwören können, er habe für einen Moment einen Raben in ihrem linken Auge flattern sehen.
„Höre“, sagte die Frau noch leiser, „Engel sehen so aus, wie der in deiner Hosentasche.“
Luca griff sich sofort an die Tasche, zunächst von außen, aber sie schien vollkommen leer. Dann von innen, und sie war vollkommen leer. Nicht mal ein alter, wieder eingewickelter Kaugummi war heute darin, keine Murmeln, Sticker oder Bonbonpapier, gar nichts.
Luca blickte fragend zu Candida auf, doch die hatte ihn bereits aus dem Laden geschoben und die Tür geschlossen. „chiuso “ stand auf dem buntbemalten Emailleschild, das vor Lucas Nase baumelte. „Geschlossen“.
Luca hörte ein Krächzen und blickte auf. Er sah einen Raben, der auf dem goldenen Ladenschild gesessen hatte und nun mit rauschenden Flügeln davonflog.