Lysanne oder Grenzübergang

(veröffentlicht in der Anthologie »Ich dich nicht«, Verlag Neue Literatur Jena, 2003)

Irgendwo zwischen Guatemala und Mexiko. Der Rio San Pedro fließt träge in die Abenddämmerung. Kein Wind, keine Wellen. Hinter mir Fremdes, vor mir Unbekanntes. Neben mir Lysanne.
Auf dieses Boot hatte ich zwei Tage lang warten müssen, Grenzen überschreiten die Menschen hier nicht gern. Auf dem Bootshaussteg sah ich Lysanne zum ersten Mal. Sie saß auf den morschen Holzlatten und kühlte sich die Beine im Wasser. Auf meine Fragen antwortete sie nur mit einem ruhigen Blick. Nicht einmal auf mein »Jonas«, verbunden mit entsprechender Geste, ließ sie sich ein Wort entlocken. Ich kenne Frauen, die man nicht nach ihrem Alter fragen darf, aber weshalb, zum Teufel, sagte sie mir nicht ihren Namen?
Ich knotete meine Hängematte an die Pfosten des Bootshauses und streckte meinen müden, vibrierenden Körper in der Hängematte aus. Den Hintern einen Meter über dem Boden, die Beine hochgelegt, ließ es sich am besten warten, ließ es sich am besten dieses sprachlose schöne Wesen betrachten. Sie kümmerte sich nicht um mich, obgleich ich außer dem bettlägerischen »Grenzwächter« der einzige Mensch, der einzige Mann weit und breit war. Sie las in einem zerfledderten Buch, ging den Bootssteg auf und ab, wusch ihren Teller nach einem kleinen Imbiß in der Regentonne. Einmal sah ich sie auf einen kleinen Hügel steigen und sich gegen einen Baum lehnen. Als sie wiederkam, hielt sie ein paar Stücke Baumrinde in den Händen. Sie kochte auf ihrem tragbaren Gaskocher eine Art Tee daraus und reichte mir einen gefüllten Becher. Ich dankte, vor Verblüffung wortlos nickend, und trank die bittere Flüssigkeit.
Abends, kurz vor dem Einschlafen, schoß mir ein Name für sie in den Schädel: Lysanne. Meine Zunge schmeckte jeden Buchstaben dieses Wortes. Ich schaute noch einmal hinüber zu dem Moskitonetz, unter dessen Stoff sich ihr Körper schattenhaft abzeichnete. Dann lächelte ich mich in einen traumlosen Schlaf.
In der Nacht erwachte ich von dem unerklärlichen Drang, die Augen aufzureißen und über mich an die Decke zu schauen. Ich blickte auf das Abbild einer Schlange, die sich in sich selbst drehte. Wieder und wieder.

Jetzt sitzt Lysanne, in ein Tuch gehüllt, neben mir auf einem der harten Bretter des Bootes. In ihren Augen scheint alles Wasser des Flusses versammelt. Auf ihrem linken, sonnengebräunten Bein sammeln sich Tröpfchen, die ihr der eintauchende Bug zuwirft. Die Luft vibriert von der Wärme des Tages und dem Geräusch des Motors. Vor Einbruch der Dunkelheit werden wir Mexiko kaum erreichen können. Der Grenzwächter war der Meinung, es sei klüger, den nächsten Morgen abzuwarten. Aber Lysanne war in das Boot gestiegen und hatte mich und die zwei Fährmanner so bestimmt angesehen, daß wir doch ablegten.
Ich versuche, den Blick von Lysannes vorgeneigtem Körper zu lösen. Sie scheint ganz in dem Schauspiel von Himmel, Regenwald und Fluß aufzugehen. Ich beschließe zu reden. Vielleicht versteht sie doch etwas, ich werde zu ihr sprechen wie zu einer Pflanze, zu einem Tier, wie zu einem Kind. Ich sage: »Wie ein Spiegel, der Fluß, nicht wahr, unser Boot schneidet eine Wunde hinein. Siehst du den Abgrund?« Sie antwortet nicht, natürlich nicht; da schweige ich wieder. Ich starre in das Wasser, als wären es ihre Augen: Wald und Wolken spiegeln sich, ja ich vermag nicht mehr zu unterscheiden, wo oben und wo unten ist. Ich erinnere mich an Carrolls »Alice im Spiegelland«, und ich erzähle Lysanne davon, frage, ob sie die Geschichte kennt. Sie sagt nichts.
Ich sinke in die Spiegelwelt, bis ich plötzlich das Gefühl habe, daß mir die Beine wegrutschen, taumele zwischen den Welten. Wo fährt unser Boot? Oben? Unten? Lysanne, siehst du, was ich sehe? Ich streiche ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die dunkle Ader an ihrem Hals zuckt. Sie sieht mich an, aber ihre Augen sind ein Spiegel.
Sie und ich, wir fahren, von unsichtbarer Hand gesteuert, hoch oben dahin. Schwarzwilde Wolken nehmen uns auf in ihren Schoß.
Das Ufer beginnt, kaleidoskopartig Muster zu bilden, Bäume, Sträucher, Wurzeln, jedes bekommt einen Zwilling geschenkt, seitenverkehrt, der es vollkommen erscheinen läßt, Kreise, Dreiecke, Ellipsen entstehen. Zugleich wirken diese klaffenden Wunden des Ufers fast obszön, springen einem ins Auge, schamlos offen. »Vielleicht,« überlege ich laut, »sahen die Maya auf diese Weise die ersten Ornamente, die sie später so kunstvoll gebrauchten? Wie aufgefädelt, nicht wahr, sie erzählen Geschichten für den, der sie lesen kann. Hör gut zu, Lysanne:
Als die Himmel sich teilten und der Vogel der Nacht herabstieg zur Erde, schliefen die Menschen aus Mais ein. Es gab nur einen, der sie retten konnte vor dem ewigen Schlaf, der Vogel des Tages. Doch die beiden Brüder waren sich zu ähnlich, ja sie hatten sogar die gleichen Gedanken. Wollte der Vogel des Tages seinen Bruder durch eine List besiegen, wußte der Vogel der Nacht bereits, was ihm bevorstand und wappnete sich gut. Darum dauerte der Kampf und dauert noch heute …«
So lese ich laut, bis die Dunkelheit den Spiegel verschluckt.
Plötzlich hält das Boot. «?Que pasa?» Ich frage die Fährmänner, was los ist, bekomme keine Antwort. Ein Blitzen rechts und links des Bootes, in den Bäumen, im Gras: »Schau, Lysanne, Glühwürmchen! Man möchte ihnen folgen, nicht wahr, versinken im Sumpf …« Lysannes Körper wird strahlend und leicht, sie schwebt über dem Boot, meine Hände brennen bei dem Versuch, sie festzuhalten. Sie verschwindet im Sumpf, ihr folgen, versinken … Ich schaue in meine ausgebrannten Handflächen. Das Boot nimmt seine Fahrt wieder auf, Lysanne sitzt neben mir.
Enger wird das Flußbett, der Urwald rückt dichter, neigt sich über das Boot. Die vampiresken Bewohner zischen an unseren Hälsen vorbei. Mich packt der Galgenhumor, ich beginne zu singen: »Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da …«
Weiße Schilfvögel trifft hart der Strahl der Taschenlampe, die unseren Fährmännern den Weg zeigt. Atemlos die Stille. Eine Schlange windet sich über mir von einem Ast. Ich schaue in ihre, in Lysannes Augen. Das erinnert mich an den Morgen. Ich hatte gesehen, wie Lysanne sich im Fluß wusch: Ihre hochgewachsene Gestalt bog sich sacht, Wirbel glitt an Wirbel vorbei, die Hüften schwangen weit, der ungewöhnlich langgezogene Bauchnabel schien weit offen zu stehen. Jede ihrer Bewegungen floß wie das Wasser um sie herum.
Mitten in meinen Träumereien beginnt der Fluß zu brodeln. Immer wieder bäumt er sich auf, will das Boot von seinem Rücken werfen. Lysanne klammert sich am Bootsrand fest. Ich rede auf sie ein, gebe sinnlose Hinweise: »Durchhalten, Lysanne! Durchhalten. Keine Angst, die Krokodile schlafen!« Nein, zum Helden bin ich nicht geboren. Dennoch schlage ich mich auf ihre Seite und versuche, ihr mit meinen Armen Schutz zu geben. Für einen Moment ist sie mir nah, ihre Haut an meiner, ihr Atem an meinem Hals. Sie ist so real, daß ich mich fühle wie im Traum.
Noch einmal hält das Wasser unser Boot fest. Spuckt es wieder aus. »Die letzte Stromschnelle,« sage ich und bedauere es sogleich, denn sie löst sich von mir. »Da vorn wird der Fluß schon breiter. Licht! Ein Ort!«
Das unermüdliche Tuckern des Motors bringt uns weiter auf unser Ziel zu. »Lysanne,« sage ich, »wo wollen wir hin?« Noch einmal verschwindet das Licht hinter einer Flußbiegung. Noch etwas Zeit, Lysanne zu atmen.
Das Dorf auf mexikanischer Seite kommt zu schnell, ist da. Wir legen an. Als ich Lysanne aus dem Boot helfen will, sehe ich sie nicht mehr.
Ich klettere auf den Pick-up zur nächsten Stadt. An fremde Körper gedrängt, sitze ich und lausche den Stimmen der Frauen.