„Koffer voller Fähigkeiten“- Eine Fluchtgeschichte

 

 

Koffer voller Fähigkeiten

Es waren einmal zwei Geschwister, das Mädchen Almira und der Junge Tarik. Sie lebten zusammen mit ihrer Mutter in einem kleinen Haus. Der Vater war im Krieg, und die Familie war arm. Sie hatten oft nichts zu essen und nicht einmal Schuhe im Winter. Ihr einziger Besitz waren zwei Koffer. Almiras Koffer war bunt, mit Glitzer und Gold übersät. Tariks Koffer sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Koffer, braun, und etwas abgenutzt. Aber wenn Tarik ihn öffnete, dann kamen ganz besondere einzigartige Dinge zum Vorschein. Wenn die Kinder Sorgen hatten, dann legten sie diese in ihren Koffer hinein. Und wenn ihnen etwas Schönes widerfahren war, wenn ihnen jemand ein Stück Brot geschenkt hatte oder ein Lächeln, dann bewahrten sie diese schöne Tat in ihrem Koffer auf. Ja, man kann sagen, in dem Koffer war alles, was die Geschwister je erlebt hatten, Alltägliches, Besonderes, Trauriges und Lustiges. Und auch alles, was Tarik und Almira besonders gut konnten. Und das war eine ganze Menge! Denn auch wenn die beiden ganz normale Kinder waren, so kann doch jeder einige Dinge gut, ausnahmslos jeder! Tarik konnte zum Beispiel ganz besonders gut zuhören. Mit großen Augen schaute er denjenigen an, der ihm seine Sorgen erzählte. Das tröstete alle, mehr war gar nicht nötig. Und Almira hatte immer gute Ideen, etwas zu reparieren, einen Weg zu finden, ein Problem zu lösen. Sie holte dann stets irgendeine Idee oder Fähigkeit aus ihrem Koffer und los ging’s …

Aber in ihrem Land war noch immer Krieg. Als das Spielen auf der Straße verboten wurde, legten die Geschwister ihre Kreiden und Murmel in ihre Koffer. Und ihre Hopser und ihr Rennen. Als das Singen verboten wurde, legten die Geschwister ihre Lieder hinein. Tarik konnte besonders schön singen und Almira zupfte die Laute dazu. Doch von diesem Tag an mussten die Kinder und die Instrumente schweigen. Nur wenn die beiden ihre Koffer aufklappten, erklang daraus eine schöne Melodie. Als die Nachbarn gezwungen wurden, einander zu verraten, legten Tarik und Almira ihr Mitgefühl in die Koffer und ihre Ehrlichkeit. Als der Vater nicht nach Hause zurückkehrte, überschwemmte eine Menge Tränen das Innere der Koffer. Doch die beiden Geschwister bauten sich ein Floß, auf dem sie gemeinsam den Wassermassen trotzen konnten.

Eines Nachts holte die Mutter ihre Kinder aus dem Bett. Sie drückte Tarik und Almira ihre Koffer in die Hand. Dann schlichen sie durch die Straßen, wurden auf einen Laster gehoben und weit weggebracht. Unterwegs rissen zwei Männer den Kindern die Koffer weg und öffneten sie. „Da ist ja gar nichts drin!“ riefen sie enttäuscht und ließen davon ab. Die Mutter nahm die Koffer und gab sie ihren Kindern zurück. Sie wandte sich zu den Männern um und sagte ruhig: „Da ist alles drin, was meine Kinder brauchen.“ Schließlich, nach vielen Tagen und Wochen, kam die Familie in einem anderen Land an.

Schüchtern saßen Tarik und Almira auf ihren Koffern. Als sie freundlich begrüßt wurden und sie zu Essen erhalten hatten, holten die Geschwister ihr Lächeln aus den Koffern. Nach einigen Tagen, als sie mit ihren neuen Freunden zusammensaßen und genug zu Essen im Bauch hatten, schlugen die Geschwister ihre Koffer wieder auf und holten ihre Hopser und ihr Rennen heraus. Sie spielten stundenlang.

Als sie merkten, dass sie in diesem neuen Land mit allen reden konnten und es keine Geheimnisse zu verbergen galt, holten die Geschwister ihre Ehrlichkeit aus den Koffern. Als sie die neue Sprache gelernt hatten, holten die Geschwister ihre Geschichten aus der Heimat aus den Koffern. Gespannt lauschten alle, was die Geschwister alles erlebt hatten, Alltägliches, Besonderes, Trauriges und Lustiges.

Und bald holten sie auch ihre Lieder wieder aus den Koffern. Tarik sang, und Almira begleitete ihn auf der Laute.

Die Koffer voller Fähigkeiten wurden niemals leer. Tarik und Almira sollten noch viele Dinge hineinlegen und herausnehmen, ihr Leben lang.

Der Pusteblumenelf

Eines Morgens, gerade stieg hinter dem sanften Tauschleier die Maisonne auf, da öffnete sich wie jeden Tag die Löwenzahnblüte Tara. Sie reckte und streckte sich schlafestrunken und gähnte laut. „Uaaah!“
„Na, noch mühüde?“ flötete die Lerche, die über der Wiese flatterte, und sich übermütig fallen ließ, wieder und wieder. „Ach, du grüne Neune!“ rief sie dann, als sie nah herangestürzt war. „Tara, was ist mit dir geschehen?“ Die Löwenzahnblüte schaute verwundert. „Was soll sein?“ fragte sie. Sie hatte sich wie jeden Morgen geöffnet und sah sicherlich noch etwas zerzaust aus. Doch was sollte der Aufstand der Lerche? „Hat man nicht mal das Recht, morgens zerzaust auszusehen?“ murrte sie. Sie neigte sich hinab, um sich in den Tautropfen auf der Wiese spiegeln zu können. Erschrocken fuhr sie zurück. „Was ist das?“ stammelte sie. „Ich bin… ich bin ja… ganz weiß!“ „Weiß wie eine Wand!“ bestätigte die Lerche. „Meinst du, ich bin krank?“ „Keine Ahnung“, zwitscherte die Lerche. „Vielleicht bist du einfach alt? Ich habe mal ein paar alte Menschen am Feld entlanglaufen sehen. Die hatten weiße Haare.“ „Alt“, überlegte Tara und streckte probeweise alle Blätter. „Ich fühl mich kräftig wie eh und je.“ Die Lerche grinste schweigend vor sich hin. „Weck mal die anderen“, sagte Tara zu dem Vogel. „Ich will schauen, ob sie auch weiß sind.“ Und die Lerche schoss auf und ab und trällerte ihr Morgenlied, so laut sie konnte. Alsbald öffneten sich alle Blüten auf der Wiese und gähnten und reckten sich. Gelb leuchtete es aus ihrem Inneren. „Gelb“, murmelte Tara. „Sie sind alle noch gelb.“ Und sie zog sich zusammen, auf dass die anderen nicht sahen, was ihr geschehen war. „Da bin ich wohl vor der Zeit gealtert“, sagte sie sich traurig.
Die anderen Blüten lebten weiter in den Tag wie zuvor. Sie badeten im Morgentau, genossen die Frühlingssonne und hielten ein Schwätzchen mit den Nachbarblumen oder den Insekten, die vorbeikamen. Das geschäftige Wiesenleben ging weiter, als sei nicht einer Blume unter ihnen etwas Schreckliches geschehen. Traurig wiegte sich die Löwenzahnblüte Tara im Wind, der ihr kalt vorkam. Sie sprach heute mit niemandem. Die Lerche hatte sie wohl längst vergessen, was ging sie ein alter weißer Löwenzahn an? Doch dann geschah es, dass eine freche Fliege das Geheimnis entdeckte. Und sogleich flüsterte sie es der nächsten Löwenzahnblüte zu. Die flüsterte es der nächsten zu und die wiederum der nächsten. Und so kicherte bald die ganze Wiese hinter vorgehaltenem Halm. Tara steckte die Nase heraus, als sie das verhaltene Lachen hörte. Und als die anderen sahen, dass es wirklich so war, wie sie gehört hatten, gab es kein Halten mehr. Ein einziges Lachen schwebte über der ganzen Wiese. Nun, Tara hatte Humor und bemühte sich, mitzulachen, doch da sie nicht wusste, was mit ihr geschah, war dies nicht so einfach. „Wisst ihr denn, warum ich plötzlich weiß bin?“ fragte Tara die anderen, als diese sich etwas beruhigt hatten. „Du bist alt“, sagten diese nur, und sie wandten sich wieder einander zu.
Nach ein paar Tagen jedoch war eine nach der andern ebenfalls weiß geworden. Nun lachten sie nicht mehr. Sie lächelten Tara wieder freundlich zu und luden sie zum Nachmittagstau ein. Und kaum hatte man sich versehen, war die ganze Wiese ein weißes Meer geworden. Ein schaumweißes weiches Pustemeer. Der Wind spielte vergnügt in den Blüten und nahm einige der kleinen weißen Löwenzahnschirmchen auf seinen Rücken. Das war ein Juchzen und Lachen. Die Löwenzahnblüten blieben alsbald kahl zurück und schauten traurig lächelnd ihren Kleinen nach. Doch als alle Schirmchen fort waren, sah man noch immer eine der Blüten mit weißem Haar stehen. Tara war als erste weiß geworden und hatte nun noch alle Haare. Verwundert starrten sie die anderen Blüten an. „Du bist ja gar nicht alt“, riefen sie. „Was ist dein Geheimnis?“ Und da hoben sich die weißen Haare des Löwenzahns und darunter kamen zwei schmale grüne Augen zum Vorschein. An der Seite ragten zwei sehr spitze Ohren hervor, und auch eine Nase und ein Mund erschienen. „Was ist das?“ riefen die Blumen und Gräser durcheinander. Selbst die geschäftigen Bienen hielten inne. Und sogar der Wind legte sich auf die Wiese, um zu sehen, was dort vorging. Aus der Blüte kletterte ein kleines fremdartiges Wesen mit Armen und Beinen. Es reckte sich, sprang hoch in die Luft, flatterte mit seinen Flügeln und lachte ein helles klingendes Lachen. „Was für ein schöner Tag, um geboren zu werden!“ rief es. Dann kam es herunter und näherte sich Tara, die vor Verblüffung starr stand und die Augen aufriss. „Danke, Mama“, sagte der Pusteblumenelf und umarmte Tara ganz fest. Ein warmes Gefühl, wärmer als die Maisonne, breitete sich in Tara aus. Wie es gekommen war, wusste sie nicht, doch es war ein Wunder, was ihr passiert war, das war gewiss. Ein geflügeltes Wunder. Dann schoss der Pusteblumenelf lachend davon, mit den Schirmchen um die Wette, hinaus in die Welt…