… lässt Blumen wachsen!“
Norwegischer Tango
(veröffentlicht in der Anthologie „Harmonika & Poesie“ )
Schwarz und scharfkantig die Spree unter mir. Ich drehe die weiße Rose in den Händen. Tangomusik kriecht aus dem verfroren klirrenden Akkordeon des alten Mannes am Fuß der Brücke. Hinter mir dein Schritt, schneeleise. Dein nordisch kühles Gesicht kippt lächelnd in meinen Blick.
Es würde mir nichts ausmachen, dich wiederzusehen, hatte ich gedacht, ich hatte doch endlich den Punkt unter unsere Geschichte gesetzt. Fertig. Schluß. Aus. Vorbei. Gerade in diesem Moment riefst du an, du kämest bald in die Stadt und wolltest mich sehen.
Mußt du, frage ich lachend und warf dir die Rose an den Mantel, eigentlich immer das letzte Wort haben?
Du willst dem Ende nicht ins Gesicht sehen. Und wirklich ist es nicht da, zieht sich zurück hinter deinem verlegenen Lachen und schnellen Schritt zur Teestube, wird weggewischt von den aufgeregten Bewegungen deiner Hände, die den Wodka umwerfen und mich.
Ich sehe in dein sanftes, kerzenlichterhelltes Gesicht. In der letzten Sommernacht des Jahres hatte es sich am Spreestrand zwischen mich und die tanzenden, gesichtlosen Körper geschoben. Eine unachtsame Sekunde. Ein Drängen an der Bar, an der ich stand und den Rauch inhalierte, der den leicht abgestandenen Spreewassergeruch vertrieb. Ein Blick deiner Nordseeaugen umfaßte mich. Ein Schritt auf mich zu, und dann sprangst du unvermittelt durch meine, die ich nicht rechtzeitig schließen konnte, in mich hinein. Schon war ich angefüllt bis zum Rand mit dir, mit Richtig und Gut und Rot und Warm. Noch bevor du ein Wort gesprochen hattest.
»Warrum du nicht tanzt?«
»Ich tanze doch.« Ich nickte auffordernd zur Tanzfläche hin.
»Leider, ich nicht tanze« Bedauernd deine Handfläche gen Himmel. Du drängtest dich an mir vorbei, ich roch Salz, Meer. In deiner Hand die Flasche noch halbvoll, du bestelltest eine neue, um mich einladen zu können. Ich lächelte, als hätte ich nichts bemerkt, aber ich war schon trunken, und du, du konntest nicht tanzen.
Radebrechend brach dein Wort in meine Tangoseligkeit, in meine Einsamseligkeit, in meine selige Tangoeinsamkeit: »Von was du trrräumst.«
Ich schwieg erstaunt.
»Man muß Träume haben …« sprachst du weiter und legtest doch tatsächlich die Faust auf dein Herz. Aber ja doch, jubilierte ich innerlich, und erzählte von irgendetwas und hörte irgendetwas, und mein Traum hob mich währenddessen, als müsse das so sein, über die Spree hoch auf das Pergamonmuseum. Ich tanzte dort, marmorweiß, nur den Mund bewegend, die Hände.
Als ich die Augen aufschlug, warst du weg. Ich blieb unerschrocken. Wir hatten die ersten Takte getanzt, nicht einmal ein Lied, ein einziges. Du mußtest wohl meine Adresse haben, ich kramte in meiner Handtasche, nein, ich hatte versäumt, mir die deine geben zu lassen. Verdammt. Meinen Kopf über mich schüttelnd ging ich nach Hause.
Ich wartete auf Post von dir. Wartete, die Finger gespitzt. Die überfließenden Worte schrieb ich den Fischen auf die Schuppen, sie schwammen nächtens die Spree entlang zum Meer.
Endlich ein Brief mit norwegischer Marke. Ich bin froh, schriebst du, dich getroffen zu haben. Und Mut hatte zu sprechen und du mir geantwortet und gelächelt …
Ich schrieb dir sofort. Und du mir. Wort um Wort um Wort. Eine Wortbrücke übers Meer, über die unsere Gedanken spazierten, fröhlich zeitweise, ernst, wahr. Freudig fielen sie wohl einander in die Arme. Immer, immer schien es, als hätten sie sich dort oben irgendwo getroffen.
Aber wann, fragte ich dich, wann kommst du?
Bald. Habe Geduld.
Ich hatte Geduld. Und Angst.
Meine Liebe, schriebst du, was ist das, ich habe Zittern und Rastlosigkeit. Kann mich nicht konzentrieren. Es ist wie ich kann dich halten und fühlen, deine Atmen hören im Nacht, unsere Gespräche im Bett am Morgen …
Ich verstand, du batest um Ruhe. Aber konnte ich jetzt loslassen, das Netz der Undine lockern? Ich trat einen Schritt zurück.
Du schwiegst. Kein Brief mehr.
Ich neckte, ich bat, ich drängte: He, was ist los?
Ich habe, schriebst du schließlich, eine Mädchen getroffen und bin verliebt. Physische Wirklichkeit ist stärker. Ich habe dich nie gekannt.
Es klirrte, als wären unsere Worte aus Eis gewesen. Es klirrte in meinem Kopf und wollte nicht mehr aufhören. Krank, aber heilbar sei ich, sagte ich lachend, um das Klirren zu übertönen, auch wenn diese Augenringe im Spiegelgesicht anderes sagten. Der Stift das Skalpell, schnitt die törrichte Liebe aus mir. Gutartig, aber ja. Stück für Stück. Gedichte für dich. Fünfzehn, zwanzig Gedichte für dich. Und noch eines zum Abschied. Aber abgeschieden von dir erreichte dich mein einsamer Abschied nicht, und jetzt bist du wieder da.
Dein querdenkender Kopf dicht vor meinem, doch deine Augen sehen mich nicht. Sehen wohl das Mädchenbild in dir, dieses norwegisch verwegene Blondlöckchen oder diese glattschwarze Wasserhexe, was weiß ich. Ich will nicht wissen, wie mir geschehen ist. Ein Mädchen jedenfalls, hattest du gesagt, und zunächst hatte ich geglaubt, ein Mädchen sei doch keine Gefahr, dieses aber besetzt dir wohl die Herzkammer und tippt auf den Dauermietvertrag mit ihren weißen Fingerknöcheln. Deine Ohren betäubt von Geräuschen und Gesprächen um uns und den Mädchenworten in dir.
»Hörst du mich?«
»Aber ja.«
»Verstehst du mich?«
»Nein, ich glaube nicht. Keine Wort.«
Das Wasser aus dem Samowar ist immer noch heiß. Süß die klebrigen Kleinigkeiten auf worterstickter Zunge. Die Worte lösen sich, und ich sehe dich an. Sehe dich an wie die Gesichter aller Männer, die ich liebte, sehe dich an. Warum du?
»Warum er?« hatten alle Freunde kopfschüttelnd gefragt.
»Er ist es eben. Punkt.« hatte ich gesagt.
Warum er? hatte keine der Freundinnen gefragt.
»Er ist es eben. Punkt.« hatten die Freundinnen lächelnd gesagt. Bist du es vielleicht, weil du ein Traumtänzer bist? Ein Träumer. Ein Tänzer.
»Vielleicht,« sagst du, werde ich ab jetzt nur auf eine schöne Bank sitzen und in den Himmel schauen …«
Ach, du träumst vom Träumen sogar, du hältst es doch nirgendwo aus. Und überhaupt, man friert sich den Hintern ab draußen, also bleiben wir hier, auch wenn deine Beine noch in Bewegung sind oder schon unter dem Tisch davonlaufen. Vor mir? Noch einen Moment, und dann los, hopp hopp, über Stock und Stein und Spree. Das mit der Bank ist mein Traum, denn ich könnte das. Mit dir.
Und nach zwei Stunden, die du geredet, gelacht, gefragt hast, stellst du noch eine Frage. Ich sehe deine zusammengekniffenen Lippen. Höre dein Schweigen. Ich weiß keine Antwort auf deine Frage. Weiß nicht einmal mehr die Frage. Was, was wolltest du wissen? Warum willst du immer wissen? Alles. Warum fragst du mich etwas, was ich wissen sollte und nicht weiß? Warum frage ich dich nicht das?
Ich sehe, wie sich meine Hand zitternd zu dem Schüsselchen vor dem Samowar bewegt. Blut pulsiert unter der Haut an meinem Hals, pochend füllt es das Gesicht, heiß, so heiß. Die Hand nähert sich meinem Mund. Ich glühe, brenne, fackele mich ab in meiner unverschämt verschämten Liebe, alle Poren öffnen sich, Schweißtropfen wie kleine kitschige Perlen darauf. Und ich frage mich, wohin, wohin? Verstecken, wo nur, hinter meinem Haar, hinter meinen Lidern. Das vertraute Orange sehen darin. Am anderen Tischende, einen Atemzug entfernt, deine unausweichliche Nähe, dein großer Körper, an dem ich nicht vorbeikäme, die weiche Schulter, an der ich meinen Kopf verstecken könnte, die nordischen Augen, die mich nicht lassen, die mich nur lassen würden, wenn du dich schämen würdest, mir meine Scham anzusehen.
Und da nützt es gar nichts, die Haare Skandinavisch-Blond gebleicht und das Kleid neugekauft und die Augen groß und nixengrün und das schönste Korallenlächeln im Gesicht zu haben. Es nützt nichts, ein wundervolles, bekrümeltes Weibspaket zu sein, das sich auf dem Stuhl kringelt, als säße es auf deinem Schoß. Das alles nützt nichts, wenn solche Pausen entstehen, die nicht einvernehmliches Schweigen sind, sondern die Schritte von mir zu dir messen. Nicht mehr in Schritten zählbar, in Meilen, Seemeilen vielleicht. Ein Ozean zwischen uns und ein Teetisch. Da nützt es gar nichts, daß du alles bist, was ich will und will und will, daß diese Musik in mir kreist, dieser hundertjährige Tango. Es nützt nichts, das zu hören, wenn du andere Lieder hörst. Kein Tango hallt in dir, vor einem halben Jahr nicht, jetzt nicht, auch wenn du im Brief einmal fast von Liebe sprachst. Fast nützt nichts.
Also lieber diesen roten Kopf einpacken und schnell die Teestube verlassen. Draußen stoße ich mich an dem Leder deiner Jacke, an die du mich einen Moment lang drückst. Auf meiner Wange rutscht ein Kuß von dir aus, als gehöre er da schon zu lange hin. Oder gar nicht. Ich nehme mich zusammen. Nehme mich zurück.
»Ich rrrufe dich an.«
»Ja,« nicke ich. Ja.
Um jetzt gehen zu können. Schnell die Brücke überqueren, bevor sie ins Eiswasser stürzt, nur von einer Seite gebaut. Bleib nur, bleib am anderen Ufer und wirf ruhig die Rose in die Spree, behalte sie nicht aus Eitelkeit.
Meine vier Wände nur ein wasserleerer Raum ohne dich, mit dem Klappern meiner Kiemen gefüllt. Einen Wein öffnen und das bittere Zeug runterspülen. Die hoffnungstriefenden vertrieften Tage. Die weiße erfrorene Rose. Die roten Nasen. Deinen unbeholfenen Kuß von meiner Wange waschen. Deinen Brief von vorher auflösen: Meine Liebe, keine Angst, einmal werden wir Tango tanzen …
UNTERWEGS ZU DIR, GELIEBTER
PREISGEKRÖNTER TEXT DES SCHREIBWETTBEWERBES VON SCHREIBFEDER.DE 2005:
Unsere Briefe, deren weiße Umschläge in der Tropensonne glänzen, liegen vor mir auf dem Tisch. Ich schreibe wieder, schreibe mit der Hand, was schon altmodisch war, als du noch nicht auf dieser endlosen Reise warst. Wo bist du, Geliebter?
Ich halte mich in Belize auf, nur zweihundertfünfzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Das Holzhaus, in dem ich wohne, steht auf starken Stämmen mitten im Urwald. Ich bade das Kind und mich im Fluss, immer offenen Auges, jede Sehne gespannt wegen der Schlangen. Mit einer Machete in beiden Händen gehe ich manchmal in den Dschungel hinter dem Haus, aber ich komme nicht weit, der einzige Weg ist der Fluss. Nur vierhundert Meter flussaufwärts schmiegt sich das Dorf in den Dschungel, in dem ich deine Spur verlor. Jeden Tag kommt Clara den Fluss herunter und bringt mir Reis und Bohnen.
Ich gehe umher mit dem Kind in den Armen und schreibe die Worte für dich in die Wände meines Kopfes. Ich trinke die durchsichtige Milch der jungen Kokosfrüchte, das Kind meine Milch. Die Zeit hat keine Bedeutung mehr, das Kind erschafft den Rhythmus. Wenn es wach ist, wache ich. Wenn es lächelt, weine ich. Wenn es schläft, schreibe ich.
Aus dem Wald erklingen Schreie. Die Brüllaffen stimmen ihr Klagelied an. Sie können sich nicht an den Wechsel von Tag und Nacht gewöhnen, ihr ganzes Leben lang nicht, wie wir beide das nie konnten. Kam die Dämmerung, gingst du zu deiner Frau. Du hast es vergessen, Geliebter, als ich dich das letzte Mal sah, hattest du alles vergessen.
Amnesie.
In einer einzigen Sekunde wurde unsere lange Geschichte in dir zerstört. Ich habe dir die Briefe gezeigt, die Papierserviette, auf der unsere ersten Worte füreinander standen. Deine Augen, die in mir nicht mich sahen, musste ich mit den Händen bedecken. Du hast sie fortgerissen und gesagt, ich sei eine Fremde für dich, die du liebst, grundlos. Du müsstest einen Ort finden, an dem du dich erinnern oder ganz vergessen könntest. Seither suchst du diesen Ort und ich dich.
Jetzt, da ich gezwungen bin, hier zu bleiben, hoffe ich, du findest mich, weil ich dich nicht suche, wie damals, als wir uns kennen lernten.
Du trugst deinen schönen kahlen Kopf mit den tiefliegenden Augen in den Raum, in dem ich wartete, auf den Beginn des Kurses und auf was weiß ich, ich hätte nicht gedacht, auf dich. Deine rauchige Stimme malte mit knappen Worten Bilder, die sich in meine Gehörgänge bohrten, in meine Gehirnwindungen krochen, sich dort ablagerten. Monate später wurden sie von deiner Stimme aus dem Telefonhörer geweckt. Wir lachten, ich sah, wie sich dein Mund dabei öffnete, und ich wollte mich von ihm verschlingen lassen.
Wir trafen uns. Spazierengehen im Park von Cecilienhof, reden, nur reden, über die Arbeit, das Schreiben, über Gott, niemals über die Welt.
Was machen wir hier, fragtest du, warum gehen wir spazieren, statt gleich ins Hotel?
Was willst du jetzt töten, fragte ich, dein oder mein Gefühl? Du schwiegst und warfst einen Stein ins Wasser.
Am nächsten Morgen nahmst du einen Kaffee mit mir und dann den Zug und deinen Platz an der Seite deiner Frau wieder ein.
Sie ist schwanger, sagtest du mit diesem Gesicht eines Mannes, der zwischen den Stühlen sitzt, weil er sich auf einem nicht wohl fühlt. Der Zug war gerade eingefahren, ich fragte dich, was uns verbinden würde. Du sagtest: Lust auf Liebe. Und Leben. Und vielleicht die Lust auf ein kleines Verbrechen? Die Tür hinter dir hatte sich geschlossen, bevor ich NEIN! sagen konnte.
Das Kind kam tot zur Welt, und du verlorst den Verstand. Schlug die Schuld über dir zusammen? Manchmal träume ich, deine Frau hätte sich gerächt. Sie ließ dich im Krankenhaus chloroformieren und deinen Kopf aufschneiden. Die Liebe zu mir herausschneiden wie krankes Gewebe. Ausnahmezustand. Ausgenommen deine Liebe, heraus aus dir.
Mein krankes Gewebe mehrt sich, wuchert in mir. Es teilte sich eine zeitlang den Platz mit dem gesunden lebenswilligen Fischchen, diesem kleinen Schmetterling, deinem Kind.
Einmal hatte ich zu dir gesagt: Und wenn ich auch schwanger würde?
Das wäre eine Katastrophe, sagtest du, aber du lächeltest.
Ich reiste nach Neuguinea, auf die Philippinen, von Japan über Hawaii nach Mexiko, folgte deinen Spuren, Geliebter, die du durch Strände, Städte, durch die Zeitungen zogst. Ich sah diese Länder mit deinen Augen, so konnte ich dir folgen. Unser Kind füllte und weitete meinen Leib.
Als ich in Mexiko-City aus dem Flugzeug stieg, sah ich dich vor einer anderen Maschine mit englischer Flagge stehen. Du, wirklich du.
Ich hatte dich schon so oft gesehen auf meiner Reise, hatte einen Rücken für den deinen gehalten, der deinen Mantel nicht trug. Hatte einen Nacken für den deinen gehalten, der deinen Kopf nicht trug. Aber diesmal warst du es, ich spürte es am ganzen Körper. Dein Name schoss durch meine Kehle, Rachen und Lippen auf deinen Hinterkopf zu. Du drehtest dich um, doch deine Augen fanden mich nicht, du stiegst in die Maschine; die weiße Tür verschloss den dunklen Mund, in dem du verschwunden warst. Ich schleppte mich zum Schalter und erfuhr, dass deine Maschine unterwegs nach Belize sei.
Belize-City ist nicht groß, ich war sicher, dich dort zu finden. Mit dieser Gewissheit schwebte ich beinah durch Straßen und Märkte, durch die Hafenhalle, aber ich fand dich nicht.
Nach vier Tagen rief mir ein Mann über die Veranda eines blauen schiefen Holzhauses etwas zu.
Bist du Deutsche? Berlinerin? Bis vorgestern hat ein Mann aus Berlin bei mir geschlafen.
Meine Füße drehten augenblicks im Staub der Straße. Ich stieg die wurmstichigen, blau gestrichenen Stufen des Hauses empor, streichelte sie mit meinen Fußsohlen. Das Haus war schief, ein sinkendes Schiff. Ratten huschten die Gänge entlang. Der Mann, von den Travellern im Haus Pudu genannt, lachte auf meine Frage, in welchem Bett du geschlafen hättest. Er lacht auf alle Fragen, er mag sie nicht. Ich glaubte, deinen Geruch in den zerschlissenen Laken zu erkennen und lächelte die ganze Nacht.
Der tropische Regenwald atmete mich ein, als wir im Pick-up hineinbrausten. Drei Tage zuvor warst du diesen Weg gefahren, hattest vom Auto von Pudus Freund aus diese Bäume betrachtet. Vor dem Dorf begrüßte mich ein riesiger Baum, ein Ceiba, Baum des Lebens, an dessen weißen Stamm du sicher dein Gesicht gelehnt hattest.
Ich ging mit Pudu durch den Schlamm der Dorfstraße, fragte über die Zäune und in den riesigen offenen Küchen nach dir. Jemand musste dich aufgenommen oder weiter gefahren haben, vielleicht war ein Hubschrauber gekommen und hatte dich abgeholt. Niemand schien etwas zu wissen. Eine Familie von fünfzehn, sechzehn Personen umringte mich schweigend, kopfschüttelnd. Alle lächelten mit ihren großen Lippen, die riesigen Zähne blitzten, kamen näher und näher. Ich schrie, schrie in ihre Gesichter. Pudu legte seine Hände auf meine Schultern und zog mich aus der Hütte. Er setzte mich in ein Boot, hellblau wie sein Haus, und fuhr mich den Fluss hinunter in seine Hütte. Im Schuppen kochte er mir eine Fischsuppe, holte ein paar junge grüne Kokosnüsse vom Baum. Einer zerschlug er mit der Machete den hölzernen Schädel, das weißliche Fleisch quoll hervor. Pudu verschwand, als ich schlief. Er muss seine Schwester Clara beauftragt haben, mich zu versorgen.
Die Brüllaffen schreien wieder. Es ist der einzige Moment, in dem ich mich fürchte. Es war schlimmer, als ich das Kind in mir trug. Ich öffnete meine Arme, rief in mich hinein, rief unser Kind aus mir heraus. Komm!
Schließlich antwortete der Bauch, zog sich zusammen, wieder und wieder, allmählich in einen erkennbaren Rhythmus fallend. Die Schmerzen kreisten mich ein, umhüllten mich, trugen mich auf die Schwelle einer Welt, aus der das Kind kommen musste. Ich ging ihm entgegen. Claras Stimme erreichte mich von weit: Atme, atme, es hat nur deine Luft, es hat nur dich!
Das Kind schaute sich verwundert um, der erste Blick aus den farblosen tiefliegenden Augen traf mich. Ich sah in dein zerknittertes Gesicht. Es ruhte auf meinem Brustkorb, der große Kopf berührte sanft mein Kinn. Mein Kind, unser Kind in meinen Händen. So groß. So klein.
Clara hielt eine Nadel über eine Kerze und begann, meine Wunde zu nähen, mein offenes, blutendes Auge.
Ich liege in der löchrigen Hängematte, das Kind auf der Brust, den Block auf den Knien. Das Kind schreit.
Es ist, als schreie es all meine Wut, meine Angst und meinen Hunger in die Welt. Clara ist seit einigen Tagen nicht mehr hier gewesen, das Essen ist längst alle. Ein paar Mal habe ich versucht, auf eine Palme zu klettern, ich schaffe es nicht. Ich suche essbare Früchte am Dschungelrand und wünsche mir, den Verstand zu verlieren.
Das Kind saugt die letzten Tropfen aus mir, ich vertrockne, welke, meine braune Haut muss längst zu Pergament geworden sein, auf dem alle Worte, die ich für dich habe, zu lesen sind. Ich träume immer öfter, du bist da und liest mich, blätterst meine Seiten mit deinen Händen vorsichtig um. Ich bin nicht mehr Frau, ich bin das Buch unserer Liebe geworden, das zu Staub zerfällt. Wo bist du, Geliebter?
Der Stift in meiner Hand zittert. Die Brüllaffen beginnen zu schreien.