Mohnfeld
Das Mädchen aus dem Pfennigsee
(Auszug)
I
„Wenn du einen Pfennig in den See wirfst, geht dein Wunsch in Erfüllung.“
Das hatte Lillis Uroma oft gesagt. Früher, als Uroma noch lebte, und als in Lillis Leben noch alles in Ordnung war.
Nun war irgendwie nichts mehr in Ordnung. Lillis Familie war aus der großen Stadt, in der Lilli aufgewachsen war, in dieses Kaff hier gezogen. Von ihrer modernen Wohnung in das alte muffige Haus von Uroma.
All ihre Freunde hatte Lilli verloren, und in der neuen Schule behandelten sie alle als arrogante Großstädterin.
Deshalb lief Lilli heute nach der Schule in den Wald. Die kleine Stadt lag in einem Tal, umgeben von bewaldeten Hügeln. Wenn man wollte, war man von überall in der Stadt in wenigen Minuten mitten in der Natur.
Lillis Hand spielte mit einem kupferfarbenen Geldstück. Ob es wohl auch mit einem Cent klappt? fragte sich das Mädchen, als es die ersten Eichen passierte. Lilli bemerkte kaum den Geruch des Waldes, den erdigen, sonnengewärmten Geruch. Ihre Schritte klangen nun, als sie auf dem weichen, sandigen Waldboden oder auf dem moosigen Untergrund ging, viel leiser. Durch die alten Eichen mit den freundlichen Gesichtern fielen Sonnenstrahlen, in denen Eintagsfliegen tanzten.
Da ertönte ein grässlicher Schrei direkt über ihrem Kopf. Lillis Herz setzte einen Schlag aus, und dann klopfte es laut. Der Schrei wiederholte sich, und dann sah sie einen großen Vogel mit weißen Flügelspitzen davonfliegen.
„Puh, bloß so ein… äh, wie hieß das Viech noch, ein… ein Eichelmäher, äh, Eichelhäher“ überlegte Lilli, „ja, der Wächter des Waldes, hat Uroma gesagt.“
Lilli musste ein bisschen über sich selber lachen. Was war sie doch für ein Feigling!
Da, ein Funke blitzte vor ihren Augen auf. Es war eine flinke hellblaue Libelle. Lilli überlegte laut: „Hm, Libellen sind doch am Wasser zu Hause. Also wenn ich ihr nachgehe…“
Das Mädchen folgte der schimmernden Libelle. Und richtig, sie führte Lillie direkt zu einem kleinen verborgenen Waldsee. Man hätte ihn glatt übersehen können, so zugewachsen war sein Ufer, die Lichtung zum Teil von Dickicht verstellt. Aber die Libelle hatte Lilli durch den einzigen Zugang geführt.
Am Ufer des Sees stand eine alte verfallende Hütte, die von Efeu zugewachsen war. Die Tür war aus der Angel gefallen und im Innern konnte man nur einen umgefallenen verwitterten Holzstuhl und ein paar Holzmörser sehen.
„Wow!“ rief Lilli. „Wie im Märchen!“ Sie ahnte, dass dort seit mehreren hundert Jahren niemand mehr lebte.
Der See lag still. Seine Oberfläche war glatt wie ein Spiegel. Nur ein paar Wasserläufer ließen kleine Ringe auf dem Wasser entstehen. Ein Frosch sprang bei Lilli Auftauchen erschrocken vom Seerosenblatt. Lilli glaubte, ein „Ach du grüne Neune!“ gehört zu haben, doch sie meinte, sie müsse sich wohl getäuscht haben. Denn seit wann können Frösche reden?
Lilli suchte eine Stelle, an der sie durch die Binsen bis ans Ufer treten konnte. Dort hockte sie sich hin und nahm ihren Cent fest in ihre Faust. Sie schloss die Augen und wünschte sich, dass alles, alles wieder gut wäre. Dann warf sie den Cent in den See. Plopp! Das Wasser verschlang das Geldstück. Kleine Kreise breiteten sich darum aus.
Lilli wartete. Sie blinzelte. War es das? Hatte es funktioniert? Sie fühlte sich schon ein kleines bisschen besser. Der Ärger in der Schule war aber noch nicht ganz vergessen. Morgen könnte das Problem von neuem beginnen. Und wie sollte sie mit Uromas Tod fertig werden? Papa hatte gesagt, die Toten kann man nicht wieder aufwecken. Sollte sie ihre liebe Uromi wirklich nie wiedersehen? Nie wieder ihre vielen kleinen bunten Thüringer Kuchen essen? Nie wieder ihre Geschichten hören?
Als nichts geschah, außer dass die Ringe auf der Wasseroberfläche verschwunden waren, beugte Lilli sich enttäuscht über das Wasser.
„Mist, das funktioniert wohl nicht“, seufzte sie.
Doch da erschien plötzlich in ihrem eigenen Spiegelbild ein Lächeln. Und das, obwohl Lilli so was von gar nicht lächelte!
Da zog sich das Näschen kraus. Und das, obwohl Lilli das nicht tat. Da nickte der Kopf. Und das, obwohl Lilli den Kopf schüttelte. Sie fuhr erschrocken zurück.
„Cool bleiben“, murmelte Lilli sich selbst zu.
„Cool bleiben, was ist das denn?“, fragte da eine Mädchenstimme.
Lilli schaute sich erschrocken um, dass ihre dunklen Haare flogen.
„Wer ist da?“ fragte sie atemlos.
„Was meinst du denn?“, sagte die Stimme. „Du hast mir doch dieses Geldstück gegeben und mich um Hilfe gebeten.“
„Dich?“ fragte Lilli. „Du klingst wie ein Mädchen. Ich dachte, es wohne ein mächtiger Zauberer im See oder so.“
Die Stimme lachte. „Ein mächtiger Zauberer? Das ist ein Märchen. Ich bin das Mädchen vom Pfennigsee. Man nannte mich Hanna. Und wie nennt man dich?“
„Lilli. Ich bin neu in der Gegend. Wir sind erst zugezogen.“
„Und deshalb hast du Kummer?“ fragte Hanna.
„Ja“, gab Lilli zu. „Aber, sag mal, Hanna, auch wenn du kein Zauberer bist, kannst du trotzdem Wünsche erfüllen?“
„ Oh, jeder kann das“, sagte Hanna leichthin. „Und ich habe außerdem das Heilen gelernt. Deshalb kommen die Menschen gemeinhin zum Pfennigsee. Sie werfen einen Pfennig hinein, und ich heile sie.“
„Pfennige gibt es gar nicht mehr“, sagte Lilli wichtigtuerisch.
„Egal“, sagte die Stimme des Mädchens aus dem See leichthin.
„Heilen?“ fragte Lilli.“ Bis du so was wie eine Ärztin oder was?“
„Ich heile mit Hilfe von Kräutern“, erklärte Hanna.
„Kräuter?“ wunderte sich Lilli. „Ich kenne nur Petersilie, die esse ich gern. Und… und Knoblauch, den mag ich nicht. Aber meine Eltern machen den überall dran und sagen, er sei gesund.“ Lilli verzog das Gesicht.
Das Mädchen im See lachte wieder. „Da haben deine Eltern recht“, sagte sie.
„Gibt es auch ein Kraut, das meiner Oma helfen kann?“
„Was hat sie denn?“
„Sie ist gestorben“, antwortete Lilli.
„Dagegen gibt es keine Medizin, Lilli“, sagte Hanna. „Ich werde dir aber einen Trank gegen den Kummer machen. Komm in einer Woche wieder.“
Lilli nickte, schnappte ihre Schultasche und drehte sich um. Als sie noch einmal zurückblickte, winkte ihr eine Hand, die mitten aus dem See gekommen war.
II
Lilli lief auf den See zu. Der Nachmittag war schon weit vorangeschritten, denn sie hatte lange in der Schule sitzen müssen. Der Eichelhäher schrie warnend, doch Lilli erschrak nicht mehr. Sie wußte, dass sie nicht allein hier war, denn Hanna, das Mädchen im See wartete gewiß auf Lilli.
Als sie die Lichtung betrat, sah sie am Ufer des Sees ein Mädchen stehen, das so alt wie Lilli zu sein schien. Es hatte rotes Haar, das sich um ihr herzförmiges Gesicht wand und bis zu ihren Kniekehlen reichte.
„Hallo“, rief Lilli, und das Mädchen aus dem See wünschte ihr fröhlich einen guten Tag.
„Wow, hast du schöne Haare“ sagte Lilli, als sie vor Hanna stand, die genauso groß wie Lilli war.
Hanna lachte, dass die Sommersprossen auf ihrem Gesicht tanzten. „Mein Vater hat immer gesagt, mein Haar sei widerspenstig wie der alte Esel von Müllers.“
„Das war nicht nett“, sagte Lilli.
„Aber er hatte recht“, sagte Hanna. „Denn es ist kaum zu bändigen. Mutter hat es mir morgens immer geflochten, doch schon zum Mittagsbrot ragten ganze Büschel aus dem Zopf“.
„Und diesen Müller und seinen Esel gab es wirklich?“ fragte Lilli.
„Ja, Lilli, ich erzähl es dir“, begann Hanna ihre Geschichte.
„Weißt du, die Mühle am Fluß dort vorn gehörte einem alten Müller, dessen Esel so alt wie er zu sein schien. Die beiden, fanden wir immer, sahen aus wie Brüder. Und sie waren beide stur und unbeugsam. Manch ein Dorfbewohner musste lange warten, bis sein Getreide zu Mehl gemahlen wurde, wenn er es zur Mühle brachte. Niemals hat der Müller auch nur einen Pfennig Erlass auf seine Arbeit gegeben noch schneller gearbeitet. Deshalb habe ich immer gesagt, vielleicht sei mein Haar auch so stur wie der Müller. Und dann hat Papa gelacht.“
„Erzähl mir mehr von eurem Leben“, bat Lilli.
„Wir haben in dieser Hütte dort gewohnt. Und sie war das schönste Heim der Welt.“
„So weit weg vom Dorf?“ staunte Lilli. „War das nicht einsam? Und verdammt langweilig?“
Hanna schüttelte den Kopf. „Manchmal ging Vater ins Dorf, um dort Waren zu tauschen. ‚Kommst du mit?’ fragte er dann mit seiner warmen Stimme, und ich nickte immer. Wir nahmen einen großen Korb mit vielerlei Dingen, du weißt schon, Kräuter und Rüben aus unserem Garten, ein paar geschnitzte Tiere, die Vater gemacht hatte, und dann machten wir uns auf den Weg. Für meine kurzen Beine war es ein weiter Weg, deshalb ließ Vater mich manchmal auf seinen Schultern reiten, das war das Beste. Im Dorf angekommen ging Vater immer zuerst zu einer kleinen Scheune. Er schob eine kleine, quietschende mit Spinnweben überzogene Tür auf, und ich huschte hinein. Es roch nach Stroh und Heu und nach den Schweinen, die meist im Hof oder im Haus herumliefen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Vorsichtig tastete ich mich vor. Meine Hand fand schließlich etwas Hartes. Ich grub meine Hände ins Stroh und holte Eier und selbstgestrickte Socken und manchmal auch ein Glas Honig hervor. ‚Aber wer hat uns das hingelegt, Papa?’ fragte ich dann stets. ‚Vielleicht die guten Dorfwichtel?’ lachte Vater und steckte die Sachen fröhlich in den Korb. Dann brachten wir unsere Sachen zum Händler. Unterwegs nickten Vater ein paar Dorfbewohner verstohlen zu, doch niemand trat auf uns beide zu und begrüßte uns, wie es sonst üblich war. Die frechen Dorfjungen, die Steine zum Spiel in einen Kalkreis warfen, zielten einmal etwas höher und weiter und trafen Vater an der nackten Ferse. Ich hörte, wie Vater schmerzvoll ausatmete. Doch er blickte nur streng die Bengel an, sagte aber nichts.
„Dann wart ihr nicht wie die anderen?“ fragte Lilli. „Das kommt mir bekannt vor. Wart ihr auch Fremde, so wie wir?“
„Anfangs“, berichtete Hanna „wusste ich auch nicht, warum wir nicht zum Dorf dazu gehören sollten. Doch dann erzählte mir Vater auf dem Nachhauseweg, warum wir so merkwürdig behandelt wurden. Mein Vater war im Dorf geboren. Doch meine Mutter war eine Zugezogene. Eines Tages war sie im Dorf erschienen. Sie kam mit einer Gruppe Landstreicher. Die Dorfleute hatten verächtlich auf das fremde Volk geschaut. Niemand hatte gefragt, ob den Leuten ein Unglück geschehen sei. Doch genau so war es. Sie waren aus ihrem Dorf im Norden von grausamen Nordmännern vertrieben worden“.
Lilli nickte. „Davon habe ich in der Schule gehört.“
„Meine Mutter“ erzählte Hanna weiter, „hatte rotes zerzaustes Haar und stand wie der Teufel persönlich inmitten ihrer Leute. Doch ein Blick ihrer taubengrauen Augen traf einen der Männer des Dorfes sogleich ins Herz. Er hörte nicht mehr das warnende Zischen seiner Leute, hörte nicht das Jammern seiner alten Mutter noch des Pfarrers strenges Räuspern. Er ging hinüber und reichte der schönen Fremden Wasser aus dem Dorfbrunnen. Und so blieb Maeve, die Rothaarige aus dem Norden, im Dorf. Heinrich, mein Vater, baute eine Hütte am Waldsee, um dort mit seiner Frau zu leben. Und nach einiger Zeit brachte Maeve ihm ein Kind zur Welt.“
„Lass mich raten“ sagte Lilli. „Das warst du!“
Hanna nickte.
„Im Dorf aber wisperte man: ‚Rote Haare, wie die Mutter, auch ein Kind des Teufels. Wie sollte es auch nicht?’
‚Hexenmädel’, riefen die Dorfkinder, wenn ich durchs Dorf ging. Darüber war ich zutiefst verwundert, denn Mutter war sanft und tat niemandem etwas zuleide. Das einzig Wilde an ihr war eben ihr Haar, ganz wie bei mir. Mutter kannte sich gut mit Kräutern und Tinkturen gegen alle möglichen Krankheiten aus.
Mich haben die Pflanzen immer gelangweilt. Ich verstand anfangs nicht, warum sie die Kräuter hegte und pflegte, als wären sie ihre Kinder. Sie sorgte sich stets um alle Lebewesen. Sie sagte immer: ‚Merk dir gut: Alles ist eins, Hanna.’ Manchmal kam spät abends einer aus dem Dorf zu ihr und bat um eine Medizin für ein Leiden, das nicht weggehen wollte. Sie half immer. Und trotzdem waren die Leute nie freundlich zu unserer Familie.“
„Dann hattest du überhaupt keine Freunde?“ fragte Lilli.
„Die ersten Jahre nicht“, antwortete Hanna. „Niemand traute sich, mit mir zu reden. Aber einen gab es doch, der dann mein Freund wurde. Er hieß Hannes. Anfangs sah es nicht danach aus, dass wir je Freunde werden würden, denn er war der frechste Kerl von allen. Aber er brach sich beim Streunen ein Bein. Ich fand ihn, schimpfend wie ein Rohrspatz im Wald, nahe der Mühle. Wahrscheinlich wollte er den Müller ärgern und Löcher in die Säcke schneiden. Und obwohl Hannes mich beschimpfte, als würde ich ihm die Haut abziehen, schiente ich sein Bein und gab ihm Mädesüß, einen Kräutertrank gegen den Schmerz.“
„Wir nehmen Aspirin, ein Antibiotikum“, unterbrach Lilli.
„Oh, ich nehme an, das ist dasselbe, aber Mädesüß wird von der Natur gemacht.“
„Nicht in der Chemiefabrik also?“ fragte Lilli. Hanna blickte sie ratlos an, offenbar hatte sie keine Ahnung, was das sein sollte. Dann erzählte sie weiter.