Der Engel aus der Hosentasche

(Veröffentlichungsreifes 50seitiges Kinderbuch. Bei Interesse gern mehr anfordern!)

1. Kapitel
Schokolade und Engel

„Mama, sehen so Engel aus?“
Luca stand mit großen Augen vor dem Pralinengeschäft in der kleinen Gasse im Zentrum von Venedig. Zwei dicke Engel hockten im Schaufenster und guckten gelangweilt in den Himmel. Signora Rigoletto, Lucas Mama, lächelte ihr Operndivalächeln.
„Vielleicht.“
„Haben die zu viele Pralinen gegessen?“ fragte Luca.
„Das denke ich auch“, sagte Signora Rigoletto und zog ihren Sohn über die Schwelle des herrlich duftenden Lädchens.
„Was nehmen wir Oma Ermenegilda zu Weihnachten mit?“ fragte sie in das melodische Klingeln des Türmelders hinein.
In dem kleinen, von Kerzen beleuchteten Raum bekam Luca noch größere Augen. In seinem Mund lief augenblicklich das Wasser zusammen. Kein Wunder bei all den duftenden Köstlichkeiten, die sich hier stapelten: Schokolade, Toffees, Marzipan, Nugat und Fondant und alle anderen Süßigkeiten, die sich ein Kind nur vorzustellen vermag. Dunkelbraune und milchighelle und zuckergussbunte Köstlichkeiten!
Lucas Blick verschlang all die Lutscher, Pralinen, Schokoladenfiguren und Bonbons, die sich hier türmten. Schwerer Kakao- und leichter Vanilleduft und Erdbeeraroma umschmeichelten Lucas Stupsnase. Seine Augen, selbst so groß wie zwei Riesentoffees, hingen an Weihnachtsmännern aus Schokolade mit Säcken voller bunter Karamellpralinees auf Zuckerwatteschnee.
„Weißt du, was ich mal werden will?“ fragte Luca leise und zupfte seine Mama am Arm.
„Verkäufer in einem Schokoladengeschäft?“ sagte da die dicke Verkäuferin und lachte gleich darauf laut.
„Kindchen, guck nicht so erstaunt!“ sagte sie freundlich. „Weißt du, das wollen alle Kinder, die hier herein kommen.“
Luca atmete erleichtert auf. Er dachte schon, die Frau hätte Ohren wie ein Luchs oder könnte Gedanken lesen wie eine Hexe. Ein bisschen sah sie ja aus wie letzteres! Mit ihrem roten zotteligen Haar, den grünen Katzenaugen und ihrem Rührstab, den sie herumschwenkte, als würde sie die Süßigkeiten nicht herstellen sondern vielmehr herbeizaubern. Auf dem Schildchen auf ihrer weißen Schürze stand „Es bedient Sie: Candida Fionnuala Noita. Hm, grübelte Luca, bedeutete Noita nicht tatsächlich Hexe?
Aber gleich waren Lucas Gedanken wieder bei einer anderen Frage. Er fragte sich nämlich, wie er seine Chancen erhöhen könnte, später einmal wirklich in einem solchen Laden arbeiten zu können. Denn: Wie viele Schokoladengeschäfte gibt es in einer Stadt wie Venedig und wie viele Kinder?
Luca wusste es nicht. Denn er und seine Mama, die Opernsängerin Frau Annabella Rigoletto, waren gerade erst nach Venedig gezogen. Frau Rigoletto war hier geboren worden, doch sie hatte in Berlin bei ihrem Mann gelebt. Nun war sie geschieden und hatte in ihrer alten Heimatstadt ein Engagement bekommen. Das bedeutete, sie durfte an der berühmten Oper von Venedig Abend für Abend vor Publikum singen. Mit der Oper von Venedig hatte es allerdings so seine besondere Bewandtnis. Mit Luca und seiner Mama natürlich auch. Oder denkt ihr etwa, ich erzähle euch diese Geschichte nur, um euch den Mund mit Süßem wässrig zu machen?
Lucas schlenderte weiter durch den wundervollen Laden. Plötzlich wurde der Junge aus mehreren großen Katzenaugen angestarrt. Er blieb stehen. Auf einer silbernen Platte lagen große Schokoladentaler. Darauf eingeprägt waren Löwenköpfe. Und die Löwen hatten Flügel. „Das sind „Moeca di San Marco“, sagte Candida. „Schokoladenplätzchen mit dem Markuslöwen, dem Wahrzeichen von Venedig.“
Während Signora Rigoletto zwei riesige Pralinenkästen bezahlte, die sie ausgewählt hatte, bekam Luca von der Verkäuferin eine Kostprobe. Cremige Milchschokolade mit Mandeln und Zimt, hm! Die Praline schmolz in Lucas Mund wie Butter beim Sommerpicknick. Er wischte sich den Mund und leckte sich die Finger.
„Sehen so Engel aus?“ fragte Luca noch einmal, diesmal die Verkäuferin Candida, während Mama den Laden schon verließ.
„No, Luca,“ sagte sie mit veränderter, leiser Stimme, und ihre grünen Augen funkelten. Luca hätte schwören können, er habe für einen Moment einen Raben in ihrem linken Auge flattern sehen.
„Höre“, sagte die Frau noch leiser, „Engel sehen so aus, wie der in deiner Hosentasche.“
Luca griff sich sofort an die Tasche, zunächst von außen, aber sie schien vollkommen leer. Dann von innen, und sie war vollkommen leer. Nicht mal ein alter, wieder eingewickelter Kaugummi war heute darin, keine Murmeln, Sticker oder Bonbonpapier, gar nichts.
Luca blickte fragend zu Candida auf, doch die hatte ihn bereits aus dem Laden geschoben und die Tür geschlossen. „chiuso “ stand auf dem buntbemalten Emailleschild, das vor Lucas Nase baumelte. „Geschlossen“.
Luca hörte ein Krächzen und blickte auf. Er sah einen Raben, der auf dem goldenen Ladenschild gesessen hatte und nun mit rauschenden Flügeln davonflog.

Die Liebe ist ein schwarzes Pferd

Die Liebe ist ein schwarzes Pferd, weißgeflügelt
mit baumhohem Leib und dampfenden Flanken
durchstreift es Fernen
auf der Suche und auf der Flucht

Und quere ich Wälder
einig mit mir in allem und nichts
aufersteht aus Erde Moos zwei Augen
und einem Verstehen die Liebe

neigt den schweißnassen Hals
haucht Atem auf meine Haut
jeder Lidschlag gehört schon ihr
doch meine Wimpern zittern ein Nein

Im Schwarz ihrer Augen spiegele ich mich
als die ich sein könnte
meine nackten Füße weichen vor
unbemerkt

nimmt mich die Liebe auf ihren Rücken
fällt augenblicklich in Galopp
zu verdrehen die Welten prescht sie mit mir
auf die andere Seite der Angst

Ich kralle mich tief in Mähne aus Sternenstaub
meinen Schrei trägt ein Adler im Bauch
aus Furcht aus Lust
mondweit zu fliegen

Wolken zu fressen
Sonnenuntergänge zu schlucken
zu taumeln zwischen allen Welten
du und ich und wir sind

ein Zentaur mit drei Köpfen
blaue Flammen im Rachen
entzünden wir die Nacht
Die Liebe ist ein schwarzes Pferd

Spiegelherz

Am Grünen Meer, dort, wo es ganz einsam ist, lebte ein Junge mit Namen Flavio. Oft lief der Kleine traurig am Strand entlang, denn sein Vater war alleweil gleichgültig gegen ihn oder gar wütend, und die Mutter schwieg ängstlich.
Welle um Welle erreichte das Land, Schritt für Schritt lief der Junge und Zentimeter um Zentimeter wuchs er, bis aus dem Jungen ein Mann geworden war.
Mutter, sprach er, ich will in die Stadt gehen und mein Glück suchen.
Mein Junge, sprach diese, und schlug die Hände vors Gesicht, das kannst du nicht tun. Und die Mutter weinte und schimpfte und drohte, wart nur, was der Vater sagt. Doch Flavio packte sein Bündel und verließ das Haus.
Die Mutter hatte jedoch, ohne dass er es bemerkte, in aller Eile ein Band um den Jackenknopf gewunden.
So weit Flavio auch lief, der Faden verband ihn unbemerkt mit dem Elternhaus dort am Grünen Meer.
Nach langer Wanderung tat sich das Stadttor vor dem Jüngling auf, und einszweidrei wurde er hineingezogen in eine bunte ungeahnte Farbenpracht, in Düfte, Stimmengewirr und Musik. Mit großen Augen lief er durch die Straßen, die nie zu enden schienen und von überall her schien ihm das Glück zu lachen. Flavio kostete hier eine unbekannte Frucht, da einen Wein, und er lernte unbekannte Tänze in endlosen Nächten. Alles, alles schien möglich.
Doch seltsam, er erwachte am Morgen stets mit keinem Quäntchen Glück in der Seele.
Da hörte Flavio von einem großen Ball, auf dem die schönsten Damen des Reiches zu finden sein würden. Es hieß, dort würde jeder sein Glück finden. Flavio zuckte die Achseln, glaubte er doch längst nicht mehr an so etwas wie Glück. Doch als der Abend heran war, kleidete er sich doch an und ging zum Palast, in dem der Tanz längst begonnen hatte.
Er wollte den Saal durchqueren und sein Blick, der keine Schönheit zu finden hoffte, sah niemanden an, doch da tanzte ihm ein Paar vor die Füße, so dass Flavio beinahe stolperte. Er zuckte wiederum nur die Achseln und wollte weitergehen. Da erblickte er die Augen der Tänzerin: Grün. Smaragdgrün. Im selben Moment sank er ohnmächtig zusammen und glaubte noch, in einem grünen Meer zu ertrinken.
Als er in seiner Kammer erwachte, konnte er sich nicht erinnern, was geschehen war. Er ging seinem Tagwerk nach und sah nur ab und an etwas Grünes schimmern, und dann wurde ihm seltsam warm zumute. Ein paar Wochen später durchstreifte Flavio wie üblich die Stadt und kam zu einem Spiegelkabinett. Er trat ein und sah sich um, betrachtete sich in den unzähligen verschiedenen Spiegeln. Kugelrund sah er im ersten aus, in dem anderen furchten Falten sein Gesicht und weißes Haar umwallte ihn, im dritten wuchs er weit in den Himmel und aus dem vierten grinste ihn der kleine Junge an, der er einmal war. Keiner der Spiegel zeigte ihn so, wie er war, Flavio trat vor den letzten Spiegel, der schimmerte hell, und ein seltsam grünes Licht brach aus ihm hervor. Flavio sah sich darin genau so, wie er war, doch er war von diesem wunderbaren Strahlen umgeben. Nur mit Mühe konnte er sich losreißen. Sogleich ging Flavio zum Besitzer des Spiegelkabinetts und bat ihn, den Spiegel abkaufen zu dürfen. Der Mann nickte nur. Was kostet er? fragte Flavio.
Er kostet nichts, sagte der Mann. Jedenfalls, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand, musst du nicht bei mir bezahlen. Wenn es der richtige für dich ist, dann kannst du ihn haben.
Er leuchtet, erklärte Flavio, wenn ich hineinschaue. Und er macht mich glücklich. Er zeigt mich so, wie ich bin und so, wie ich werden könnte.
Der Mann nickte: Dann ist es gut. Aber pass gut auf ihn auf, er ist sehr zerbrechlich, mehr noch als jedes gewöhnliche Glas.
Flavio nahm den Spiegel also, der war leicht wie eine Feder, und trug ihn in seine Kammer. Als er ihn aufgestellt hatte, erschienen wunderbarerweise im strahlenden Grün zwei große Augen mit einem langen dichten Wimpernkranz, eine kecke Nase, zwei hohe Wangenknochen und ein korallenroter Mund. Es war das Antlitz einer Frau. Es war das Antlitz der Tänzerin vom Ball.
Und Flavio begriff nun, woher die Schönheit des Spiegels rührte und er spürte, dass er längst in dieses Gesicht verliebt war. Lange sah er in die grünen Augen, betrachtete die roten Haare, die mit den Lichtstrahlen um ihren Kopf tanzten, legte seine Lippen auf die ihren. Und er erzählte seiner Spiegeldame von seinem Leben, von dem Haus am Grünen Meer auch und den Eltern, die dort lebten, er verschwieg auch nicht seine Traurigkeit, die ihn so oft befiel. Die Spiegeldame zeigte ihn stets, wie er sein wollte. Doch sie zeigte ihm im Spiegel auch das Band, das um seinen Knopf geschlungen Flavio mit seinem Elternhaus heimlich verband. Da wurde Flavio wütend, weil er meinte, sie wolle ihn seinen Eltern entreißen, und er schrie und ging eine Weile fort.
Erwachte Flavio am Morgen, war sein erster Gedanke, in den Spiegel zu sehen. Doch sosehr es ihn auch faszinierte, seine Schönheit zu betrachten oder sich selbst als strahlenden Held, oft ward er es auch müde hineinzublicken, seine Augen brannten dann und sein Kopf glühte. Dann begnügte er sich eine Weile damit, seinem Tagwerk nachzugehen und den Spiegel Spiegel sein zu lassen. Er wusste ihn seiner sicher und beachtete ihn immer weniger. Eines Tages aber bemerkte er, dass die Spiegeldame ihren Platz verlassen hatte und er erschrak. Es gab kein Leuchten mehr, ja, er sah nicht einmal mehr sich selbst. Nur ein schwarzes Loch gähnte ihn an und drohte Flavio zu verschlingen.
Da setzte er sich vor den Spiegel und schwor, nicht mehr wegzugehen, bis alles wieder beim alten wäre. Und schließlich kehrte die Schöne mitsamt dem Strahlen zurück und Flavio war ein paar Stunden glücklich. Dann wandte er sich erneut ab. Da rief ihn die Spiegeldame, leise, zärtlich, doch Flavio war ungehalten.
Was ist?
Wieso schaust du mich nicht mehr an? fragte sie,
Tu ich doch, knurrte Flavio.
Ich sehe es, sprach sie, aber ich kann es nicht fühlen.
Das wird an dir liegen, sagte Flavio und verließ die Kammer, um in die Stadt zu gehen.
Den feinen Sprung im Spiegel hatte er nicht bemerkt, erst als er ein paar Tage später zurückkam, entdeckte er ihn. Was ist das, fragte er scharf.
Der Spiegel schwieg und strahlte nur in zartem Grün.
Ein paar Tage später trat Flavio wieder an den Spiegel heran. Das Licht war schwach, doch beständig.
Meine Schöne, sprach er leise, ich sehe mein ganzes Leben in dir.
Die Spiegeldame lächelte und zeigte ihm alles, was er je erreichen könnte.
Doch im Glas waren haarfeine Sprünge, die Flavio erst entdeckte, als er genauer hinsah.
Aber was ist denn mit dir? herrschte er. Wieso gehst du kaputt? Leuchte!
Und die Spiegeldame lächelte, und sie zeigte sich und ihn und ein Haus am Meer und spielende Kinder. Das grüne Strahlen schoss aus dem Spiegel. Flavio hielt geblendet die Hände vors Gesicht.
Das war es doch, was du wolltest? fragte die Spiegelfrau leise.
Beim nächsten Mal zeigte der Spiegel eine armselige Kammer, ein paar schreiende Kinder und die Spiegelfrau, Flavio war nicht in dem Bild zu sehen.
Der war erschrocken, als er das sah. Du glaubst, fragte er ungläubig, ich könnte dich je verlassen?
Sie lächelte traurig. Du tust es doch schon. Sobald ich dich nicht so zeige, wie du dich sehen willst. Sobald ich mich nicht so zeige, wie du mich haben willst.
Flavio schwieg.
Das Licht wurde wieder schwächer, doch niemals ging es ganz aus. Flavio tobte jede Woche einmal, doch kam er zurück, war seine Spiegelfrau immer noch da. Oft schämte sich Flavio und dann sah er sich im Spiegel an und wurde wütend auf sich und auf sie, die ihn so zeigte.
Immer blieb sie. Doch nie war es ihm, der sich selbst immer kleiner werden sah, genug. Schließlich fragte er sich gar, ob er nicht sowieso ihrer Schönheit unwürdig war. Und als sie noch immer lächelte und ihm von Liebe sprach, da nahm er einen Stein und schlug ihn in das Glas, das in tausend schillernde Tränen zersprang.

Flavio verließ die Kammer, und ritt aus der Stadt. Die ersten Tage verbrachte er wie betäubt auf seinem Pferd und begriff nicht, was er getan hatte. Und er verstand auch alle Monate nicht, wie es dazu gekommen war. Doch er ritt durch die Welt auf der Suche nach Antworten.
Eines Tages traf er eine Frau, die den Weg entlanglief, barfuß und leichtfüßig. He, lachte sie hinauf. Warum schaust du so traurig, schöner Herr?
Ich habe meinen Spiegel zerschlagen, sagte Flavio, ohne die Frau anzusehen.
Dann blick in diesen hier, sprach sie und hielt ihm einen kleinen Spiegel vor.
Flavio sah darin seine Schönheit, doch sie wirkte kalt und unbewegt, ein schönes totes Bild, das nicht wuchs, aber immerhin, er konnte sich sehen.
Schnell wurde dieser Spiegel für Flavio zu langweilig, und auch das Lachen der Frau dröhnte ihm leer und hallend im Kopf.
Ich muss weiter, sprach er. Dieser Spiegel ist es nicht, den ich gesucht. Und er verließ die Frau.
Eines Tages traf Flavio auf einen alten Mann, der barfuß seinen Weg kreuzte.
Junger Herr, rief der Alte. Was schaust du so traurig drein?
Ich habe meinen Spiegel zerschlagen, antwortete Flavio.
Fürwahr, sagte der Alte, das ist schlimm.
Gibt es noch andere Spiegel für mich, Alter?
Sicher, sprach der lächelnd, es gibt tausende. Aber den richtigen, nun, den gibt es nur einmal, und ihn zu zerbrechen ist wohl das Allerschlimmste.
Kann ich ihn wieder finden?
Wenn du auf dem richtigen Weg bist, besteht immer eine Möglichkeit, sagte der Alte.
Welches ist der Richtige?
Der richtige Weg ist der, keinen Spiegel mehr zu brauchen, um dich zu sehen. Spiegele dich im Waldsee, in den Pfützen, in den Augen eines Rehs. Spiegele dich in deinen eigenen Augen. Überquere die Ozeane. Durchquere das höchste Gebirge. Dort wirst du den Spiegelberg finden und darin deinen Spiegel, unzerstört.
Danke, guter Mann, sagte Flavio und ritt weiter. Er spiegelte sich im Waldsee, in den Pfützen, in den Augen eines Rehs und erkannte sich darin in seiner richtigen Größe, als Teil der Natur, der er war, nicht mehr und nicht weniger.
Schließlich kam er auf seiner Reise ans Grüne Meer. Zunächst ritt er zum Haus, in dem seine Eltern lebten.
Die Mutter kam ihm entgegen gelaufen und suchte heimlichen Blicks den Faden, der ihren Jungen zurückgebracht hatte. Flavio aber umarmte seine Mutter und sprach: Nicht dein Band, Mutter hat mich zurückgebracht, sondern mein Wille. Ich begegne euch nun als erwachsener Mann.
Und so trat er auch dem Vater gegenüber, der fortan nicht mehr wütend auf Flavio sein konnte. Ein paar Wochen später trat Flavio mit den Eltern vors Haus und sie umarmten einander herzlich. Schau nun nicht mehr zurück, mein Junge, sprach die Mutter. Finde dein Glück
Flavio drehte sich nicht um. Er ließ sein Pferd am Strand entlang traben und er war traurig wie früher und doch war er hoffnungsvoll, er konnte nun nach vorn schauen.
Da entstieg den grünen Wogen eine Nixe und sprach:
Was schaust du so traurig?
Ich habe meinen Spiegel zerschlagen. Und das grüne Leuchten verloren.
Die Nixe lachte und bespritzte ihn übermütig mit Wasser. Schau doch, schau nur, sprach sie, hier ist es ja.
Es ist dasselbe Leuchten, sprach Flavio, aber es ist nicht sie.
Sie? fragte die Nixe.
Ja, sie, meine schöne Tänzerin.
Die Frau an deiner Seite?
Ja, sagte Flavio. Meine Frau. Aber sie war nicht an meiner Seite, sie lebte im Spiegel.
Da lächelte die Nixe. Ein grünes Leuchten und eine Frau im Spiegel, die dich dir selbst zeigte, und du nennst sie deine Frau?
Ja, begehrte Flavio auf.
Dann sag mir ihren Namen, sprach sie.
Den weiß ich nicht.
Dann lass ihn dir gesagt sein und merk ihn dir gut. Sie heißt Sarianna, und sie ist eine Wasserfee. Du hast nur ihr Spiegelbild gekannt, weil du sie niemals zu dir herausgerufen hast. Die gute Nachricht jedoch ist, dass sie mit dem Spiegel nicht zerbrochen ist, weil sie mehr ist als ihr Bild. So ist sie noch da. Finde sie, wenn du es vermagst, jetzt, wo du ihren Namen weißt.
Und die Nixe löste sich in der nächsten Woge zu weißem Schaum auf.

Mit Sariannas Namen auf den Lippen ritt Flavio Tag für Tag, Monat für Monat durch die Welt, ohne sie zu entdecken. Überall jedoch sah er ihr Leuchten, sah er einen Rücken, der dem ihren glich, ein paar Augen, die ihn an sie erinnerten, doch alle waren nicht sie. Er fand keinen Spiegel und keine Spiegeldame, die sein Herz erwärmt hätten. In den Bergen trotzte er den Widrigkeiten, er rang mit Wölfen, er erklomm die höchsten Berge.
Eines Nachts stieß sein Pferd plötzlich mit der Nase gegen etwas und blieb stehen.
Was ist, rief Flavio, denn er sah kein Hindernis. Doch das Pferd konnte keinen Zentimeter vorwärts gehen. Flavio sprang ab und stieß sich ebenfalls die Nase an etwas Glattem, Harten. Was ist das? rief Flavio verwundert.
Die Nacht war finster, sie mussten den Morgen abwarten und legten sich zur Ruhe.
Als Flavio die Augen aufschlug sah er vor sich einen gläsernen Berg. Im Glas brachen sich die Strahlen der eben aufgehenden Sonne und ließen es funkeln und glitzern in den schönsten Farben. Der Spiegelberg, sprach Flavio. Wir haben ihn gefunden. Hier wird sie sein.
Und Flavio versuchte, den Berg zu erklimmen. Er versuchte es zu Fuß, mit Anlauf, zu Pferd, er versuchte es mit Kraft und mit Schnelligkeit, aber vergebens, immer wieder rutschten seine Hände an dem Glas ab.
Es ist… stöhnte Flavio erschöpft.
… niemals unmöglich, sprach da eine Stimme. Flavio blickte auf und sah den alten Mann, der ihm geraten hatte, den Spiegelberg zu suchen.
Bis hierher hast du es geschafft, du wirst doch wohl jetzt nicht aufgeben. Sieh nur, da oben steht schon dein Spiegel und erwartet dich.
Und tatsächlich, auf der Spitze des Berges stand der Spiegel.
Was soll ich tun? fragte Flavio.
Würdest du alles für sie tun?
Alles.
Würdest du über Glas für sie gehen?
Sicher.
Würdest du durch Glas für sie gehen?
Ja, sagte Flavio und in diesem Moment sank sein Arm durch das Glas, als wäre es flüssig geworden und Flavio ging hindurch. Im Innern war eine Treppe aus Glasperlen, die schritt Flavio empor und endlich sah er seinen Spiegel vor sich stehen. Doch der Rahmen war leer. Kein Strahlen, kein Leuchten, und keine Sarianna.
Aus dem Glas hinter Flavio erhob sich die Nixe, die ihm verraten hatte, wie seine Liebste heißt und sprach: Hast du sie noch immer hier erwartet, Flavio? Und sie lachte. Sarianna, sagte sie dann, Sarianna ist in ihrem eigenen Spiegel.
Natürlich, rief Flavio erfreut, wie konnte ich so in die Irre gehen. Ich muss ihren Spiegel suchen. Aber, sprach er dann und hielt inne. Wenn ich sie finde und sie mich nun nicht mehr liebt?
Die Liebe, lachte die Nixe, die Liebe hört niemals auf. Sie verwandelt sich nur.
Und sie verschwand wieder im flüssigen Glas.
Flavio verließ den Gläsernen Berg und machte sich auf die Suche nach Sariannas Spiegel. Er ritt wie der Wind mit den jagenden Wolken.
Nur einmal fragte er eine Frau am Wegesrand, die lachend einen Spiegel hoch hielt, nach dem Weg zur Stadt.
Flavio schaute nicht in den Spiegel, er wusste, was er wollte. Schnell ritt er weiter. Er wusste, sie würde zu Hause sein, im Meer. Und bald näherte er sich der Küste, über der ein grünes Strahlen lag. Bald sah er auf der Landzunge, die weit ins Wasser ragte, einen Turm, der von Wellen umtost wurde und aus dem ein grünes Strahlen drang.
Flavio sprang von seinem schweißnassen Pferd und klopfte, niemand tat ihm auf, doch die Tür war nicht verschlossen. Vorsichtig trat Flavio ein. Aus dem Zimmer im Turm floss das grüne Leuchten. Flavio stieg die vielen Treppen empor, höher und höher, im schien, er stiege bis in den Himmel.
Endlich kam er zu einer Tür, die war ganz aus türkisfarbenem Edelstein. Er öffnete sie. Und endlich sah er wieder die sanften grünen Augen, die kecke Nase, die korallenroten Lippen, die ihn anlächelten.
Die Frau vor dem Spiegel drehte sich um und lächelte mit noch schönerem Strahlen als ihr Spiegelbild. Flavio sank in das Grün ihrer Augen.
Sarianna, sprach er. Und er nahm sie in den Arm, um sie nie mehr loszulassen.