Chronosina, die Erfinderin der Zeit

(veröffentlichungsreiches Manuskript, Gesamttext gern auf Anfrage)

Für kleine und große Vor-und Nach-Denker

Prolog

Die Zeit.
Die Zeit ist ein komisches Ding.
Sie vergeht sehr langsam, wenn du auf etwas wartest, stimmt˚s?
Wenn du den Sandkörnern in einer Sanduhr zuschaust, rieseln sie uuunendlich laaaangsaam herunter. Und: Dauert es nicht manchmal ewig bis zum Pausenklingeln? Bis zum Eintreffen eines Päckchens? Oder bis Weihnachten, auch wenn längst Dezember ist?
Wenn du es eilig hast dagegen, rast die Zeit. Schneller, als du rennen kannst, selbst wenn du Klassenbester im Sprinten bist.
Die Zeit ist ein komisches Ding.
Ist sie eigentlich ein Ding?
Jeder redet über sie, als wäre sie eines: Ich habe keine Zeit. Hab die Zeit vergessen. Komm rechtzeitig!
„Keine Zeit, keine Zeit“, sagte das weiße Kaninchen in *Alice im Wunderland* und schaute ständig auf seine Taschenuhr.
Hast du schon einmal darüber nachgedacht, woher Zeit kommt?
Ich will dir erzählen, wie die Zeit erfunden wurde. Und wer sie erfunden hat.
War es Gott? War es ein König? Oder der Papst? Oder ein berühmter alter Erfinder?
Nein, der Erfinder der Zeit war eine Erfinderin, ein Mädchen.
Die Erfinderin der Zeit hieß Chronosina.

***

Am ersten Tag wurde von den Erfindern die Erde erschaffen.
Das Komische war nur, dass es noch gar keine Tage gab. Jedenfalls keine, die gemessen oder gezählt wurden. Die Zeit verging einfach. Verging sie dann überhaupt, wenn keiner sie maß und zählte? Die frisch erfundene Erde lag im Dunkeln.
Die Erfinder arbeiteten weiter. Einer erfand die Sonne und schuf damit das Licht auf der Erde. Stolz reckte sich der Erfinder der Sonne aus der Masse der Erfinder empor. Er hatte wahrlich etwas Großes erfunden. Alle verneigten sich vor ihm. Der Erfinder der Sonne tippte sich stolz an den Hut. Nie wieder rührte er einen Finger.
Die anderen Erfinder machten sich wieder an die Arbeit. Es gab noch viel zu tun. Einer erfand das Wasser. Ein anderer das Gewölbe und das besondere Blau des Himmels. Doch es war ein kniffeliges Problem zu lösen, denn Himmel und Meer wollten immerzu ineinander sinken. Man musste eine klare Trennlinie zwischen beiden ziehen. Viele Erfinder wurden hierbei hinzugezogen, doch schließlich gelang es. Mit vereinten Kräften schnitten sie die beiden voneinander ab. Nur manchmal, frühmorgens, wenn noch kaum einer wach war, durfte das Wasser zum Himmel hinaufsteigen. Übrigens, der Erfinder des Horizontes rührte von nun an keinen Finger mehr.

***

Die anderen Erfinder machten sich wieder an die Arbeit.
Sie gründeten Abteilungen. Die Weltallabteilung, die geologische Abteilung, die Kreaturenabteilung, die Vegetationsabteilung…
In der Weltallabteilung wurden die Himmelskörper erfunden. Ihre Erfinder hatten viel Vergnügen, die Milchstraße, die Plejaden und alle anderen Sterne und Planeten zu erschaffen. Sie jonglierten in ihren Laboren mit den runden Himmelskörpern und ordneten sie am Himmel nach strengen wissenschaftlichen Prinzipien an.
Der junge Erfinder Lieven hatte besonders viel Phantasie. Er erblickte in einer Sternenanordnung einen Schwan. Während auf der Erde die Tiere erschaffen wurden, blickte Lieven seinem Freund, dem alten Erfinder Daribert über die Schulter und übernahm einige der gelungensten Exemplare. Lieven begann nun, am Himmel die verschiedensten Sternbilder zu erschaffen. Zunächst bildete er die Fische nach, die gerade in die Meere entlassen wurden. Später den Skorpion, den Widder, Stier und den Löwen. Du kennst natürlich den großen Wagen. Ich verrate dir was: Mit diesem hatte Lieven die anderen Sterne zu ihren Plätzen gebracht. Und nach getaner Arbeit hatte der junge Erfinder den Wagen einfach am Himmel stehen lassen, wo er bis heute verharrt. Ob er schon rostig ist?

***

Die Erfinder waren emsig gewesen und hatten immerzu etwas Neues erfunden. Sie hatten die Erdanziehungskraft erfunden, die Gezeiten, die Vulkane, die Gletscher, die Dschungel, die Wiesen, die Flüsse, die Wale, die Kängurus, die Schmetterlinge…
Doch nach vielen tausend Jahren, als die großen Gesetze und die kleinen Wunder erschaffen waren, wurde es allmählich schwierig, etwas Neues zu erfinden.
Chronosina war eine kleine Erfinderin, die zu jener Zeit lebte. Sie war ein recht ernstes Mädchen. Sie hatte die Nase immerfort in einem Buch stecken, während die gleichaltrigen Erfinder draußen herum tobten. Da waren die Erfinderin des Lachens, Sonrisa und der Erfinder des Spielens und der des Streicheausheckens. Der junge Erfinder der Liebe, Amorantian, schwebte fortwährend in den Wolken und spuckte Kirschkerne auf die Erde. Währenddessen aber saß Chronosina in ihrem Stübchen und werkelte an irgendeiner Erfindung herum. Jedoch, ihr gelang nichts. Oder sagen wir, nichts war ihr gut genug.
Die kleine Erfinderin baute zum Beispiel einen Tränentrockner, weil sie bemerkt hatte, dass die Erfindung der Liebe zu vielen Tränen geführt hatte. Er funktionierte ganz einwandfrei. Man musste nur die Hände in die Maschine legen und dann auf die Augen. Wer Liebeskummer gehabt hatte, konnte nun keine einzige Träne mehr vergießen.
Stolz präsentierte Chronosina den Tränentrockner auf der Erfinderkonferenz. Sie erntete beifälliges Kopfnicken von den ehrenwerten Herren der Erfinderzunft, den Hutträgern. So wurden die alten weisen Erfinder genannt, denn sie setzten niemals ihre Hüte ab. Der Sternbilderfinder Lieven hatte Chronosina begleitet. Er flüsterte ihr zu: „Als würde sich ihr Verstand sonst verkühlen.“ „Oder davonfliegen“, flüsterte das Mädchen zurück. „Oder als sei ihr Verstand statt im Kopf in den langen Hüten zu Hause“, kicherte Lieven.
Chronosina, die keinen Hut trug wie alle jungen Erfinder, hatte nun etwas erfunden, was sich zu bewähren hatte. Bald zeigte sich, dass ihr Tränentrockner bei den Liebenden nicht allzu begehrt war. Vielleicht lag das daran, dass Dolores, die Schwester von Amorantian, den Schmerz erfunden hatte. Und beide Geschwister gingen immer Hand in Hand. Wie auch ihre Erfindungen.
Chronosina verstand das nicht. Doch sie sah auch nicht, wie oft Sonrisa, die Erfinderin des Lachens, Hermeno, der Erfinder des Verstehens und Ignosco, der Erfinder des Verzeihens zusammen bei den Liebenden Feste feierten. Was machte es da schon, wenn auch Dolores an die Türe klopfte, hinterm Rücken einen Sack voller Tränen?
Chronosina wollte das zwar nicht in den Kopf, aber ihre Erfindung wurde einfach nicht gewürdigt. Vielleicht, dachte sie sich, bin ich einfach noch zu klein, um die Gesetze der Liebe zu verstehen? Dann werde ich eben etwas anderes erfinden!

***

Doch Chronosina kam wohl einfach zu spät. Alles war perfekt. Und auf immer sollte das unverändert so weitergehen. Doch halt: Unverändert? Auf immer? Was war dieses Immer?
Wenn es dunkel wurde, dann bemerkte die kleine Erfinderin ärgerlich, dass sie müde wurde und sich alle Gedanken und Erfindungen in ihrem Kopf zu drehen begannen. Also schlief sie. Wenn die Sonne auf Chronosinas Nase schien, dann wachte sie auf und fühlte sich wie neu geboren. Ganz frisch. Und so wusste sie, dass etwas Neues begonnen hatte. Natürlich wussten das auch die Schmetterlinge, die Hühner, Affen und die Kängurus. Auch alle anderen Erfinder bemerkten es. Doch keiner machte sich darüber Gedanken. Es war einfach so, und Schluss. Aber Chronosina beobachtete das alles genauer, und das macht schließlich einen guten Erfinder aus, nicht wahr? Sie beobachtete das Leben vor ihrem Fenster. Nichts veränderte sich. Alles blieb, wie es war. Die Erde wurde immer voller. Es gab Probleme zwischen den Menschen, die schon lange da waren und jenen, die jung waren. Immer größer wurden die Streitigkeiten zwischen ihnen.

***

Auf den Versammlungen tätschelten die Hutträger Chronosina herablassend die Haare: „Na, Kleine, meinst du, du wirst auch noch etwas erfinden?“ Anfangs sagte Chronosina stets voller Zuversicht: „Das werde ich!“
Später sagte sie nichts mehr, aber ihre Augen hinter der Brille verengten sich kämpferisch. Chronosina war sich sicher, dass es noch etwas ganz Großes zu erfinden gab.
Eines Tages saß sie mit Professor Nonkonformo auf einer Bank vor dem Versammlungsgebäude. Nonkonformo hatte die eigene Meinung erfunden. Zwar war er ein Hutträger, jedoch einer, der ab und an seinen Hut lüpfte.
„Alles ist bereits gedacht worden!“ klagte Chronosina. „Alles ist bereits gesagt worden. Alles ist schon erfunden worden, was es zu erfinden gab.“
„Nein, nein“, lachte Professor Nonkonformo. „Es gibt immer etwas zu verfinden, zu erforschen oder zu verbessern, Chronosina. Alles, was erfunden werden kann, existiert bereits. Die Erfindungen sind unendlich und sie liegen auf der Straße, man muss sie nur aufheben.“
Chronosina bedankte sich und hüpfte davon. Sie sprang eine Straße entlang, immer weiter und weiter. Und da, als sie die schnurgerade Straße anschaute, die Ferne und das, was hinter ihr lag, ging ihr plötzlich auf, was es zu er-finden gab. Den Verlauf. Den Ablauf. Das Hier und Dort. Das Jetzt und das Später. Sie drehte sich um und sah auf den Weg zurück, den sie gekommen war. Und das Früher, sagte sie sich.

***

Die kleine Erfinderin zeichnete eine Linie auf ein Blatt und schrieb Anfang und Ende darauf. Dasselbe wie für das Universum und die Welt, dachte sie sich, müsste auch für die Menschen gelten. Und dazwischen verging etwas, was Chronosina nun *die Zeit* taufte.
Da kam Aetas, ein junger Erfinder, der bisher ebenfalls noch nichts erfunden hatte, des Weges und neigte sich über die Aufzeichnung. Er war sofort Feuer und Flamme für Chronosinas Idee. Und er nahm ihr den Stift aus der Hand und teilte die Zeit, die den Menschen gegeben war, in verschiedene Etappen ein. Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter, mittleres Alter und Alter.
Chronosina nickte begeistert. Diese Etappen teilte die kleine Erfinderin nun in sogenannte Jahre ein. Sie schüttelte Aetas die Hand und sprang aufgeregt nach Hause. Nun war sie dabei, die große Erfindung zu machen, die sie immer erträumt hatte. Doch die Einteilung konnte noch verfeinert werden. Chronosina beobachtete die vergehende Zeit genau. Sie entdeckte die verschiedenen Phasen der Natur, in denen diese erblühte, Früchte gab und dann einschlief. Chronosina nannte diese vier Phasen Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Und die kleine Erfinderin beobachtete außerdem, dass in einem bestimmten Rhythmus der Mond voll wurde und wieder abnahm. Anhand dessen unterteilte sie ein Jahr in sogenannte Monate.
Als der Sternbilderfinder Lieven einmal zu Besuch kam, erklärte Chronosina ihm die Erfindung. Lieven war sofort Feuer und Flamme für ihre Idee. Und er nahm ihr den Stift aus der Hand und teilte das Jahr in verschiedene Sternbildphasen ein. Je nachdem, welches der Sternbilder man in den jeweiligen Monaten jeweils besonders gut sah.
Das machte den beiden Erfindern viel Spaß, es war ein lustiges Spiel.
Später teilte Chronosina die Monate nochmals in Wochen auf. Und diese wiederum in Tage.
Dann nahm die kleine Erfinderin einen langen Stab und steckte ihn in die Erde. Die Sonne schien darauf, und der Stab warf auf die Erde seinen Schatten. Der Schatten wanderte herum. Chronosina markierte seinen Weg mit Kreide. Und dann schrieb sie Zahlen dazu und teilte so den Tag ein. In genau vierundzwanzig Stunden. Und die Stunden in sechzig Minuten. Einen Teil des Tages war es dunkel. Das nannte sie Nacht. Und das, was danach kam, nannte sie Morgen. Der Morgen ist etwas besonders Schönes, sagte sich Chronosina. Die Sonne geht rot und leuchtend auf und man fühlte sich wie neugeboren! Dann, spann sie den Faden weiter, folgt der Mittag, die Mitte des Tages. Da steht die Sonne am höchsten und alles flüchtet in den Schatten und sehnt sich nach etwas Ruhe. Schließlich kommt der Abend, da werden die Menschen und die Erfinder müde. Manche Tiere aber, wusste Chronosina, erwachen erst jetzt und gehen im Schutze der Nacht auf die Jagd. Und mitten in der Nacht, um null Uhr, beschloss die Erfinderin, beginnt unmerklich ein neuer Tag.
Chronosina war sehr zufrieden mit sich. Die Rechnung ging auf. Aufgeregt lief sie mit dem Packen ihrer Aufzeichnungen zur Erfinderkonferenz, um ihre Erfindung, die ZEIT, zu präsentieren. Was würden die ehrwürdigen Hutträger dazu sagen?